Hautnah

"Ich komme aus der Hölle": Nürnberger entkam gerade noch dem Terror in Kabul

11.9.2021, 10:16 Uhr
Der 24-Jährige, der anonym bleiben muss, hat die Übernahme der Taliban hautnah erlebt. Was er schildert, geht unter die Haut. 

© Michael Matejka, NNZ Der 24-Jährige, der anonym bleiben muss, hat die Übernahme der Taliban hautnah erlebt. Was er schildert, geht unter die Haut. 

Es ist ein aufgeräumter junger Mann, der zum Gespräch in einem Nürnberger Café erscheint. Leinenhemd, kurze Haare, freundliche grünblaue Augen in einem weichen Gesicht. Auf der Straße würde niemand erkennen, welche Geschichte, welches Trauma hinter ihm liegt. Der 24-Jährige, der kürzlich auch bei Nürnbergs Oberbürgermeister Marcus König eingeladen war, der sich über seine Geschichte informieren wollte, ist bereit, sie auch hier zu erzählen. Aber anonym - zu groß ist die Gefahr, dass seiner Familie oder ihm von den Taliban etwas angetan wird. „Sie sind vernetzt, sie wissen alles über dich“, sagt S.


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Ende Juli flog er von Nürnberg nach Kabul, um nach Jahren seine Familie zum ersten Mal wieder zu besuchen. Um Haaresbreite schaffte er es, nach der Übernahme der Taliban, der islamistischen Terrormiliz, die nach 20 Jahren wieder die Kontrolle über Afghanistan erlangt haben, mit einem der Evakuierungsflieger der deutschen Bundeswehr noch ausgeflogen werden. „Im Vergleich zu dem, was ich dort erlebt habe, war die Zeit, als ich mit 16 alleine nach Deutschland kam, gar nichts“, sagt S.

Waffen im Schulzimmer

Um seine Geschichte zu verstehen, muss man ein bisschen ausholen. S. wuchs in einer Provinz südwestlich der afghanischen Hauptstadt Kabul auf. Er hatte gute Noten, brachte sich schon als Kind selbst Englisch bei und ging gerne zur Schule. Bis dort die Propaganda der Taliban einsetzte. „Sie haben gesagt: ,Ihr seid die nächste Generation, ihr müsst uns helfen, den heiligen Krieg zu führen‘“, erzählt er. Waffen lehnten im Klassenzimmer an der Wand. Gehirnwäsche setzte ein. Der er sich als Teenager widersetzten wollte. Er ging nicht mehr zur Schule. Da bedrohten die Taliban seine Familie. „Es war klar, ich muss hier raus“, sagt er.

Sein Vater kontaktierte einen Schleuser, 35 Tage lang war S. unterwegs bis er in Deutschland ankam, als unbegleiteter Minderjähriger mit 16 Jahren. In einem Land, das ihm zumindest etwas sagte: Zweiter Weltkrieg und Hitler, aber auch Mercedes Benz und FC Bayern München. Über das Flüchtlingslager in Zirndorf landete er schließlich nach Nürnberg, in einer Wohngruppe.

Er spricht fünf Sprachen

Er liebt Sprachen, fünf an der Zahl spricht er, sein Deutsch ist ebenfalls ziemlich perfekt. Schon nach drei Monaten konnte er einfache Gespräche führen. Vor allem hatte er den unbedingten Willen, etwas aus seinem Leben zu machen. „Ich hatte die Wahl, depressiv in der Ecke zu sitzen oder etwas daraus zu machen“, erzählt er. Seine Motivation war hoch: „Ich bin aus der Hölle gekommen“, ein Satz, den S. immer wieder sagt. Dann schaffe ich das jetzt auch, denkt er sich. „In einem Land zu leben, das Freiheit und Chancen bietet, das schätze ich sehr!“, sagt der 24-Jährige.


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Er will etwas aus seinem Leben hier machen

Mit Hilfe seiner Betreuer, vor allem aber mit seiner eigenen Schubkraft setzte er alles daran, es zu etwas zu bringen. Er geht tagsüber auf die Preißler-Schule, dazu auf die Abendschule. Er macht Quali, Fach-Abi, jetzt studiert er im dritten Semester an der Technischen Hochschule Nürnberg Betriebswirtschaft. Er engagiert sich ehrenamtlich, bei der Awo und im afghanischen Kulturverein. Er hat einen großen Freundeskreis, internationale junge Menschen. Wenn man ihm zuhört, weiß man, warum. S. ist ein gescheiter Kopf, ein guter Gesprächspartner, ein sympathischer junger Mann mit einem ansteckenden Lächeln.

Diese Bilder erschütterten die Welt: Hunderte Afghanen laufen auf dem Rollfeld des Flughafens in Kabul neben einer Boeing her. Sie wollen in ein Flugzeug gelangen und fliehen.

Diese Bilder erschütterten die Welt: Hunderte Afghanen laufen auf dem Rollfeld des Flughafens in Kabul neben einer Boeing her. Sie wollen in ein Flugzeug gelangen und fliehen. © dpa-Bildfunk

Während er sich sein Leben hier aufbaute, alleine, hatte er so gut wie keinen Kontakt zu seinen Eltern. Wo sie leben, gibt es kein Internet, die Telefonleitungen werden immer wieder von den Taliban zerschossen. Nach über sieben Jahren beschloss er in diesem Juli, nach Afghanistan zu reisen. „Wie konntest du das nur machen zu dem Zeitpunkt? Selber schuld!“ Vorwürfe dieser Art bekam der 24-Jährige nach seiner Rettung auch zu hören. Er erklärt es so: „Natürlich galt Afghanistan als Risikogebiet, aber das war nichts Neues für mich. Ich kenne das Land nur so.“ Um die Familie einmal wiederzusehen, lohnt es sich, dachte er.

Instinkt treibt ihn früher zum Flughafen

Zehn gute Tage verbringt er mit seiner Familie, die inzwischen in Kabul lebt. Am 15. August geht sein Rückflug. Obwohl der Flug erst nachmittags geplant ist, treibt ihn sein Instinkt schon frühmorgens zum Flughafen. Auch weil er in den Nachrichten mitbekommen hat, dass die Taliban immer näher rücken. Er checkt ein, gibt den Koffer auf, bekommt die Boardkarte, aber er wird nicht abheben. „Canceled“ (abgesagt) steht plötzlich auf der Anzeige bei seiner Maschine und bei allen anderen Flügen. „Ich wollte es erst nicht wahrhaben“, erzählt S. Man nimmt ihm die Flugkarte wieder ab, „Du fliegst doch nicht“, sagt man ihm.

Panik bricht aus

Nervosität kommt am Flughafen auf, denn die Nachricht spricht sich wie ein Lauffeuer herum: Die Taliban haben Kabul eingenommen. Man hört Hubschrauber kreisen, die Menschen geraten in große Unruhe. „Jeder ist irgendwohin gerannt“, erzählt S. Von Panikattacken gejagt, rennt auch er. Er findet ein Taxi und fährt in das Haus seiner Eltern zurück. In der Stadt tobt inzwischen der Taliban-Mob: Auf gepanzerten Fahrzeugen fahren sie durch die Straßen, schießen triumphierend in die Luft, feiern wie im Rausch ihren Sieg. „Sie haben auch auf Autos geschossen, auch direkt neben uns“, sagt S.

Er kontaktiert Freunde, sie versprechen, sich zu kümmern, dass er auf die Evakuierungsliste des Auswärtigen Amtes kommt. Er hat einen deutschen Pass. 24 marternde Stunden wartet er, ohnmächtig wie alle anderen. Er verfolgt die Nachrichten, sieht die Bilder der Menschen, die sich verzweifelt an ein abhebendes Flugzeug klammern. Da geht auch ihm, dem Optimisten, der Mut verloren. „Als ich das gesehen habe, war ich am Boden zerstört. Ich dachte, vielleicht schaffe ich es doch nicht.“

Augenkontakt vermeiden, nur nicht auffallen

Dann bekommt er eine E-Mail mit den Koordinaten, wo er sich im militärischen Teil des Flughafens einfinden soll, um zur Maschine der Bundeswehr zu kommen. Die Botschaft in der Mail ist deutlich: Wenn ihr es schafft, nehmen wir euch mit, aber es kann alles passieren auf dem Weg dorthin. S. bedeckt seinen Kopf mit einem Schal, zieht sich dunkel an, um nicht aufzufallen, vermeidet Augenkontakt. Ein Freund seines Vaters, der mit seinem längeren Bart landestypischer aussieht als er selbst, begleitet ihn im Taxi. An zehn Checkpoints der Taliban müssen sie vorbei. „Ich habe gesagt, ich fahre zu meiner Tante“, sagt S.

„Kinder wurden umgetrampelt“

Etwa drei Kilometer vor dem Koordinatenpunkt bleibt das Taxi im Verkehrschaos stecken. Die Autos stehen Stoßstange an Stoßstange, nichts bewegt sich mehr. S. steigt aus, lässt den Koffer im Taxi und rennt durch die Menschenmassen. Nach 20 Minuten kommt er an einem von Amerikanern besetzten Wachturm an. Er streckt seinen Pass in die Luft, aber es werden nur amerikanische Staatsbürger und Ortskräfte durchgelassen. Um Kontrolle zu bekommen, schießen die Amerikaner immer wieder in die Luft. Die Situation ist pures Chaos, die Menschen drängen sich verzweifelt und schreien. S. hat ein kurzes Handy-Video davon gemacht. Die Bilder sehen nach Krieg aus. „Es wurden Kinder niedergetrampelt, alte Frauen lagen am Boden“, sagt S.

Sein deutscher Pass und sein gutes Englisch retten ihn am Ende. Er wird mit anderen zusammen zu der Maschine der Bundeswehr gebracht. Erst als sie abhebt, spürt er Erleichterung. „Vorher hätte ja noch alles passieren können.“ Über Taschkent geht es nach Frankfurt, von dort fährt er im Zug nach Nürnberg. Immer noch im Schock läuft er vom Hauptbahnhof bis zur Lorenzkirche. Davor setzt er sich hin. „Ich wollte erst mal wahrnehmen, dass ich wirklich raus bin“, erzählt der 24-Jährige.

Schüsse hallen in seinem Kopf

Bis heute hallen in seinem Kopf Schüsse, wenn etwas ein bisschen lauter knallt. Er hat keinen Appetit, schläft nur noch wenig. Denn ihn treibt die Angst um seine Familie um. Sie ist aus zweierlei Gründen in Gefahr. Wegen eines Onkels, der für die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und für die kanadische Botschaft gearbeitet hat – er wurde nach Toronto evakuiert – und wegen ihm selbst, der nach Deutschland geflüchtet ist. Beides fällt auf die Familie zurück. „Wenn sie meine Familie erschießen, wie soll ich dann leben?“, fragt er. Dann sei er doch auch schuld daran, indirekt. „Ich weiß nicht, ob sie morgen noch am Leben sind.“ Deshalb will er seine Familie dort herausbekommen, sie irgendwie auf eine rettende Liste bringen. Der Onkel hatte mit Deutschen und Kanadiern kooperiert. Aus Sicht der Taliban ein schwerer Verräter. Es fällt auf seinen Bruder, S.s Vater, zurück. „Und das soll dann der Dank sein, dass man die Angehörigen ihrem Schicksal überlässt?“ fragt S.

"Wir wollen den Staat hier nicht belasten"

Seine Familie hier bei sich in Deutschland zu haben, in Sicherheit, das ist sein Traum. Genau wie er hätten seine Eltern, seine Geschwister, die zum Teil studieren, den Willen sich hier einzubringen, Jobs, die doch dringend besetzt werden müssen, wie in der Pflege, zu übernehmen: „Wir wollen nicht herkommen und den Staat belasten. Wir haben in Afghanistan schon viel erreicht. Wie viel könnten wir dann in einem Land wie diesem erreichen?“

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