Jungs lesen anders
13.11.2014, 20:40 Uhr„Die größten Geschlechterunterschiede sind im Bereich Lesen zu beobachten. In allen Pisa-Staaten erreichen die Mädchen im Lesen signifikant höhere Testwerte als die Jungen.“ Dieses Zitat stellt Tischner an den Anfang seiner Projektskizze. In Deutschland entspricht der Leistungsvorsprung der Mädchen einem Schuljahr. Die Lesekompetenz ist nach 2000 in den vier folgenden Pisa-Erhebungen noch weiter auseinandergedriftet. Tischner und Melitta Sluka vom Nürnberger Jungenbüro (Schlupfwinkel) sind alarmiert.
Helden vermisst
Was Jungen gerne lesen, so der Professor, werde in der Schule in der Regel wenig geschätzt. Dazu zählt er Comics, Songtexte, Magazine, Websites oder auch Handbücher mit Informationen über Sport und Hobbys. Tischner beruft sich dabei auf Erklärungsansätze der Kölner Literaturkritikerin Christine Garbe für die „Lesekrise“. Danach müssten Jungen sich im Schulunterricht mit Lesestoff auseinandersetzen, der einseitig auf die Leseinteressen von Mädchen zugeschnitten sei. Als da sind Beziehungs-, Tier- und Liebesgeschichten. Jungen dagegen wünschen sich lieber Spannung und Aktionsreichtum: Abenteuer und Kampf, Reise- und Heldengeschichten, das Eintauchen in fremde Welten. Sie befassen sich auch gerne mit Naturforschung, Technik und Computer, sportlichen Herausforderungen oder kühnen Bauprojekten. Jungs lesen nicht so gerne kontinuierliche Texte, wie sie typisch seien für Romane. Viel mehr lassen sie sich durch Lesestoff fesseln, der Schrift, Illustration, Grafik, Schaubilder und Tabellen abwechslungsreich miteinander kombiniere.
Jungen finden nach der These von Garbe und Analysen der Regensburger Literaturkritikerin Anita Schilcher in der Kinder- und Jugendliteratur, die ihnen zu Hause, im Kindergarten und der Schule angeboten werde, „keine adäquaten Helden und Rollenvorbilder mehr“.
Abenteuer gefragt
Der Nürnberger Professor zitiert Schilcher, deren Auswertung zwar bereits zehn Jahre alt ist, die für ihn aber immer noch Gültigkeit hat: „Körperliche Geschicklichkeit, Selbstständigkeit, Mut, Abenteuerlust, die Lust, an die Grenzen der gesteckten Normen zu gehen — all diese Eigenschaften fehlen den modernen Kinderbuchjungen. Sie sind übergegangen auf die starken Mädchen, die es wie Sand am Meer gibt.“
Während Buben solche Bücher mit häufig eher sensiblen, schwachen Jungen als Protagonisten privat kaum lesen würden, so Tischner, müssten sie dies in der Schule tun. „So kann es kaum verwundern, dass die meisten Jungen sich im Alter zwischen dem achten und zwölften Lebensjahr — der erste Leseknick setzt bereits nach der zweiten Klasse ein — vom Bücherlesen abwenden und ihr Interesse auf digitale Medien verlagern.“ Dort glaubten sie zu finden, was ihnen die Schule vorenthalte: Anerkennung, Selbstständigkeit und das Eingehen auf ihre Interessen.
An dieser Stelle, schlussfolgert der Professor, sei die Pädagogik gefordert, Ideen und Konzepte zu entwickeln, wie der Leseunterricht so gestaltet werden kann, „dass er auch den Interessen der Jungen gerecht wird“. Dass diese angeregt werden, auch wieder in ihrer Freizeit zu lesen. Tischner ist überzeugt, dass Familien — und hier besonders die Väter — durch ein lesefreundliches Klima auch die schulischen Bemühungen um eine gezielte Jungenförderung im Lesen „maßgeblich unterstützen und zu deren Erfolg beitragen“ könnten.
Mädchen mehr unterstützt
Tischner vermisst ein entsprechendes Engagement der Politik. Während der erhöhte Förderbedarf von Mädchen in den MINT-Fächern (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) anerkannt und durch Projekte unterstützt werde, werde dies bei der Leseförderung für Jungen negiert. So stünden knapp 100 staatlichen Mädchenförderprojekten in den MINT-Fächern nur vier Jungenförderprojekte im Bereich Lesen gegenüber. Anders sei das in Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada.
Der Nürnberger TH-Professor verweist auf einige wenige Projekte in Deutschland. Da ist die Initiative „kicken & lesen“ in drei Bundesländern oder „boys & books“ in Nordrhein-Westfalen, das eine Leseliste zusammengestellt hat. „Jungen lesen — aber anders!“ heißt ein weiteres Projekt, diesmal in Sachsen.
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) hat die Initiative „Jungen lesen anders“ gestartet. Dazu gehören zwei Lesekisten (mit je 50 Büchern für Jungen ab sieben und ab elf Jahren), die jeweils in den Regierungsbezirken ausgegeben werden. Darin sind Titel enthalten wie „Die Baumdetektive“, „Star Wars“, „Das große Hundebuch für Kids“ oder „Die Jagd nach dem Leuchtkristall“.
Wolfgang Tischner und Melitta Sluka vom Nürnberger Jungenbüro setzen nun genau bei ihrem Leseförderprojekt für Jungen auf diese BLLV-Kiste. Am 21. November, dem bundesweiten Vorlesetag, gehen sie — als Pilotmodell — damit in die vierte Klasse der Reutersbrunnenschule. Da dabei ein echter Held nicht fehlen darf, konnten sie zum Vorlesen Siegfried Schwemmer gewinnen. Der Geistliche und Lehrer ist auch ein erfolgreicher Kampfsportler (Karate) und taugt damit als Vorbild, gerade auch für die Jungs. Außerdem kooperieren Tischner und Sluka mit dem Nürnberger Tessloff-Verlag. Er stellt eine weitere Kiste mit 50 Exemplaren aus seiner Kindersachbuchreihe „Was ist Was?“ zur Verfügung.
Nach dem Auftakt ihrer Kampagne hoffen die beiden Initiatoren, dass sich weitere Schulen (und Sponsoren) finden werden, um Jungs das Lesen schmackhaft zu machen.
Infos zu den Leselisten/-projekten:
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