Kalenderblatt

Kalenderblatt vom 16. Dezember 1971: Beweis für Pluralismus?

16.12.2021, 07:00 Uhr
Kalenderblatt vom 16. Dezember 1971: Beweis für Pluralismus?

© Hans Kammler

Glasers Fazit klingt nicht euphorisch, aber der Tenor seines Resümees nimmt sich recht positiv aus. Uber die einzelnen Veranstaltungen legt die Stadt eine knapp hundert Seiten umfassende Dokumentation vor. Sie enthält sämtliche Details: Ausstellungen, die Dürer-Jahr-Inszenierungen der Nürnberger Bühnen, die Festkonzerte und die dort uraufgeführten Auftragskompositionen, die Dürer-Reden. Mit diesem Abschlußbericht könne das Dürer-Jahr „sozusagen in die historische Dimension zurückgestellt werde“, meinte Hermann Glaser zum Beginn seines Fazits, „mit zunehmender Entfernung werden die oft mühseligen Details zugunsten der Kontur sich verlieren“. Die Frage ist nur, ob hier überhaupt eine klare Kontur sich abzeichnen wird, oder ob aus diesem Jahr der aneinandergereihten Festivitäten nicht nur eine Summe der unterschiedlichsten Impressionen zurückbleibt. Diffus werden diese Erinnerungen nicht nur darum bleiben, weil der Charakter der Veranstaltungen zwischen der großartigen Präsentation des Dürerschen Werkes und etwa den Avantgarde-Kompositionen der Festkonzerte höchst unterschiedlich war, sondern weil vor allem das Niveau dieser Dinge so stark divergierte, daß man ständig zwischen Zustimmung und Verärgerung hin- und hergerissen wurde. Und Hermann Glaser täuscht sich, wenn er glaubt, daß dieses Dürer-Jahr nur „einige Konservative vergrämt und einige von der „alternative culture“ verärgert habe. Denn die Verärgerung über nicht wenige der Dürer-Jahr-Projekte beschränkte sich doch wohl nicht nur auf jene, auf die der vage – und desavouierend klingende – Begriff des „Konservativen“ zutreffen mag. Die Verärgerung basierte doch wohl nicht eben selten darauf, daß ein künstlerisches Niveau nicht erfüllt wurde, das nach dem Maßstab der Kosten und dem Anlaß zu fordern war. Glaser stellt denn auch die Vergrämten sogleich in die Ecke jener, die sich als „Unzufriedene“ und „Sich-unterschätzt-Fühlende“ an einen „miesen Provinzialismus“ anhängen. Das Verdikt, das auf eine kleine Gruppe zutreffen mag, nimmt sich als aggressives Rückzugsgefecht aus. Wir wollen nicht erneut die vieldiskutierte Kostenfrage in den Blickpunkt rücken.

Wenn Glaser aber den Bericht der Stadt als Beleg dafür interpretiert, daß „die Investitionen kulturpädagogisch rentierlich angelegt wurden“, so ist das eine Behauptung, die in vielen Details nicht stimmt. Die Verpflichtung zur „Prodomo“-Sicht sollte den Blick für die Fakten nicht verstellen oder zumindest nicht zu derartigen Euphemismen verführen. „Wir haben weder Dürer zu einem Heros stilisiert“ – was 1971 eine triviale Selbstverständlichkeit ist – „noch das Reichsparteitagsgelände à la Christo verpackt“ – was gar kein so guter Witz ist, wenn man bedenkt, daß manche Dinge des mit dem Segen der Stadt veranstalteten „Symposion Urbanum“ von diesem Kunstgenre nicht so weit entfernt sind. Doch der Kulturreferent weiß den rechten Weg, denn „in der Mitten liegt holdes Bescheiden“. „Progression mit Sympathiewerbung“ war für Glaser das Ziel dieses Dürer-Jahres, und er fragt sich angesichts der so extrem differierenden Pressestimmen in den dreizehn Aktenordnern, ob dieses Ziel auch erreicht wurde. Eine präzise Frage auf die er wiederum eine höchst vage „Pro domo“-Antwort findet: „Wir entnehmen dieser ungemein breiten und vielschichtigen Resonanz, daß wir in diesem Jahr genügend Anregung gegeben, Pluralismus verifiziert haben.“ Immerhin läßt Glaser die Frage nach dem künstlerischen Erfolg offen: „Ob dem quantitativen der qualitative Erfolg entspricht, ist natürlich schwer zu beurteilen.“ Wenn aber eben das ungeklärt bleibt, nimmt sich das positive Gesamtresümee etwas merkwürdig aus, denn als Anregung zum „Bedenken“, „Nachdenken“ und „Umdenken“ war der ganze Aufwand denn doch wohl ein wenig üppig, so daß der „Vorwurf der Gigantomanie“ nicht so apodiktisch zurückzuweisen ist, wie der Kulturreferent es versucht. Hermann Glaser zitiert in seinem Bericht, der die Züge einer Apologie hat, Christoph Lichtenberg: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.“ Ein wahres Wort, wenn man Kulturplanung in Nürnberg nach den Kriterien dieses Dürer-Jahr-Ergebnisses analysiert. Noch ein anderes Wort fiel einem zu dieser Kette von Festivitäten ein, als das Dürer-Jahr kaum seinen Zenit erreicht hatte, ein Wort des allerdings nicht mehr besonders akkreditierten Rilke: „Wer spricht von Siegen – übersteh‘n ist alles!

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