Konsum steigt

Meth-Hölle Nürnberg? Warum immer mehr junge Frauen zur Droge greifen

Jannik Westerweller

Nordbayern.de

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11.10.2024, 05:00 Uhr
Der Konsum in Nürnberg ist in den vergangenen Jahren gestiegen. (Symbolbild)

© Monkey Business Images/IMAGO/ingimage Der Konsum in Nürnberg ist in den vergangenen Jahren gestiegen. (Symbolbild)

Mittwochabend, ungefähr 23.30 Uhr. Eine Frau liegt regungslos am Dr.-Helmut-Kohl-Platz, direkt neben dem Nürnberger Hauptbahnhof. Sie ist jung, vielleicht Anfang 20. Sie ist nicht ansprechbar, reagiert nicht einmal auf Schütteln, sie ist kreidebleich. Nicht mehr als ein leichtes Heben und Senken ihres Brustkorbs verrät, dass sie noch lebt. In der linken Hand hält sie zwei, vielleicht drei, Spritzen. Keine fünf Minuten später: Blaulicht. Rettungswagen und Notarzt rücken an. "Vielleicht kenne ich sie schon. Wir sind öfter hier", sagt ein Rettungssanitäter. Für ihn ist das bitterer Alltag.

Wie viele Menschen in Nürnberg regelmäßig Drogen konsumieren, ist unklar. "Es ist seit Jahren und Jahrzehnten eine Drogenszene vorhanden", vor allem eine Opiat-Szene, erklärt Andrea Freismidl, Suchtbeauftragte der Stadt Nürnberg. Einen Anstieg des Drogenkonsums genau zu beziffern, ist eine Sache der Unmöglichkeit. Mal seien es mehr, mal weniger, "saisonal schwankend". Auch, dass immer mehr Menschen Beratungsangebote nutzen, muss nicht heißen, dass mehr Menschen wirklich Drogen konsumieren – sondern, dass die Beratungsangebote besser angenommen werden.

Und dennoch ist der Drogenkonsum eindeutig zunehmend: "Wir müssen uns nichts vormachen", erklärt Daniela Dahm, Geschäftsführerin und Mitgründerin des Vereins "Lilith", der sich speziell an Frauen und Mädchen richtet. Die Nürnberger Drogenhilfeeinrichtungen gehen davon aus, dass 2000 bis 3000 Personen in Nürnberg regelmäßig illegale, harte Drogen konsumieren. Allein Lilith betreut etwa 1000 Frauen - und "das ist nur ein Bruchteil". Gerade der Anteil an Frauen, die akut mit einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert werden, ist auffällig gestiegen, so eine Sprecherin des Klinikums Nürnberg. Glücklicherweise sinkt die Anzahl der Drogentoten in der Region seit einigen Jahren stetig. Ein Erfolg, der möglicherweise auch auf das Nürnberger Drogenhilfemodell zurückzuführen ist.

Der Konsum steigt – in allen gesellschaftlichen Gruppen. Das liegt zum Teil am leichten Zugang, einige Drogen könne man sogar einfach im Netz bestellen. Und dabei sind die Konsumierenden nicht weniger vielfältig als die Drogen, die sie nehmen. Das Stereotyp des "Junkies" trifft schon lange nicht mehr zu, falls er das überhaupt je tat: "Die klassische Drogenkonsumentin gibt es schon lange nicht mehr." Dahm erzählt von Müttern mit zwei Kindern, die den Haushalt allein stemmen müssen. Studentinnen, die ihr Lernpensum nur gerade so schaffen, jungen Mädchen, die sich beim Feiern aufputschen wollen. Die Lebenssituationen könnten unterschiedlicher kaum sein und doch eint sie alle die Droge Crystal Meth. Nicht nur macht die Droge leistungsfähiger – sie unterdrückt auch das Hungergefühl. Das macht diese Droge besonders attraktiv für Frauen, an die die Gesellschaft ein strenges Schönheitsideal an.

Und noch eine Sache eint die meisten Drogenkonsumentinnen: Oft haben sie Erfahrungen von persönlicher, aber auch struktureller Gewalt gemacht. "Man geht davon aus, dass 80 Prozent der Konsumentinnen sexuelle Übergriffe erfahren haben", erzählt Dahm. Je jünger die Frauen, je weniger Unterstützung sie erhalten, je näher ihnen der Täter stand, je öfter sie Übergriffe erlebten– desto wahrscheinlicher, dass das Trauma zu einer Suchterkrankung führt. Und diese Suchtmuster zu durchbrechen, ist schwierig. "Niemand ist gerne süchtig", sagt Dahm. Dahinter stehen immer komplexe Suchtmuster, die es zu durchbrechen gilt.

Den Begriff "Junkie" lehnt Dahm vehement ab. Denn der ist abgeleitet vom englischen Wort "Junk" – auf Deutsch "Müll". Und Menschen als "Müll" zu bezeichnen, das sei kein Weg, wie eine Gesellschaft mit schweren Suchterkrankungen umgeht. Man müsse immer schauen, wie es dem Menschen hinter der Sucht geht.

Besonders beängstigend ist in dem Zusammenhang, dass gleichzeitig die Kapazitäten der Beratungsstellen nicht angestiegen sind. Es gibt ganz eindeutig eine Unterversorgung, die Dunkelziffer der Konsumierenden ist hoch. Die Wartelisten sind lang. Oft haben die Träger Finanzierungsschwierigkeiten, besonders, wenn es um Jugendliche geht. Ein Beispiel: Für Erwachsene ist hier der Bezirk Mittelfranken zuständig, "bei Jugendlichen gibt es eine Finanzierungsunsicherheit", erklärt Freismidl.

Nürnberg im Crack-Rausch?

Berlin, Frankfurt, München – die Droge Crack ist in Deutschland auf dem Vormarsch. Nicht so in Nürnberg: "Wir sind heilfroh, dass uns diese Droge noch nicht erreicht hat", erklärt Freismidl. Eine mögliche Erklärung dafür: "In Nürnberg gibt es kein Crack, weil es so viel Crystal gibt", sagt Dahms. Die Nähe zu Tschechien, die günstige Lage an Autobahnkreuzen, die guten Zugverbindungen einerseits nach Tschechien und andererseits in andere deutsche Großstädte machen die Stadt zur Drogenhauptstadt im Südosten der Republik. Und: Auch in Nürnberg wird immer mehr Meth gekocht.

Doch Crystal Meth ist bei weitem nicht das einzige Problem. Es wird alles Mögliche konsumiert, "wir kommen selber kaum hinterher", erklärt Dahm. Oft startet es mit Crystal Meth, dann nehmen Konsumierende Fentanyl oder Ketamin, um wieder herunterzukommen. Aktuell liegt Lachgas gerade bei jungen Menschen im Trend, erklärt Freismiedl.

Noch gefährlicher als viele Drogen selbst sind oft Streckmittel. Der Klassiker hierbei: Bleipulver in Kräutermischungen. Immer wieder führt das zu tödlichen Vergiftungen. Die Droge bleibt für Konsumierende immer eine "Wundertüte" – denn in Bayern gibt es kein Drug-Checking, aktuell untersucht das Netzwerk "Nürnberger Drogenhilfemodell" mit einer wissenschaftlichen Studie, inwiefern das den Konsum sicherer machen und gleichzeitig ein Monitoring über die kursierenden Stoffe ermöglichen könnte.

Ebenfalls gibt es in Bayern keine sicheren Konsumräume. Aus Sicht der Drogenhilfeeinrichtungen seien diese ebenso wie das Drug-Checking aber enorm wichtig. "Wenn wir nicht verhindern können, dass Menschen Drogen konsumieren, müssen wir verhindern, dass sie daran sterben", erklärt Dahm.

Menschen, die an Depressionen oder Suizidgedanken leiden, sind nicht allein. Betroffene erhalten zum Beispiel bei der Telefonseelsorge niederschwellige Hilfe. Die Nummer 0800 111 0 111 ist rund um die Uhr besetzt, die Beratung ist kostenfrei und anonym. Auch der Krisendienst Mittelfranken ist 24 Stunden am Tag unter 0800 655 3000 oder 0911 42 48 55 0 erreichbar. Beratungen können auch Online oder vor Ort erfolgen. In schweren Notfällen verständigen Sie bitte den Rettungsdienst unter 112.

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