Mögeldorf: Wo aus Nachbarn neue Freunde wurden

13.07.2014, 07:59 Uhr
Mögeldorf: Wo aus Nachbarn neue Freunde wurden

© Roland Fengler

Also rein in den schönen Garten der Wohnanlage, der aussieht, als wüchsen die Blumen nicht erst seit diesem Frühjahr hier, sondern schon seit vielen Jahren. Was daran liegt, dass Silvia Karisch, eine Bewohnerin des Marthaprojekts, tonnenweise Pflanzen aus ihren alten Gärten ausgebuddelt und hierhergekarrt hat. Auch an diesem Samstagvormittag wässert und pflanzt sie wieder. „Das Projekt braucht so engagierte Leute wie die Silvia“, sagt Poelchau.

Nicht allein

Das Wohnprojekt in Mögeldorf ist so groß, dass die 64-Jährige zur Öffentlichkeitsreferentin gemacht wurde. 100 Menschen wohnen in fünf Wohngruppen zusammen. Allein soll sich hier niemand fühlen, jeder hat aber auch Aufgaben zu übernehmen. „Es gibt immer etwas zu organisieren, man kann vielleicht mal eine Pause einlegen, aber die Arbeit hört nie auf“, meint Poelchau.

Wohnprojekte seien ein enormer Kraftakt, bestätigt Ursula Pfäfflin vom Hof e.V. Der Verein berät Menschen, die gemeinschaftliches Wohnen im Sinn haben. In Nürnberg gibt es erfolgreiche Beispiele, etwa die „Olgas“ („Oldies leben gemeinsam aktiv“), eine Frauengemeinschaft, die seit zehn Jahren am Nordostbahnhof basisdemokratisches Wohlfühlwohnen praktiziert.

Der Vorlauf für das Marthaprojekt zog sich über Jahre hin. 2010 sei die WIN GmbH ins Spiel gekommen, die den Komplex mit 62 Wohnungen, Kita und Gewerbeeinheiten in der Marthastraße schließlich baute. „Anfangs konnten wir bei den Grundrissen der Wohnungen mitreden“, erinnert sich Gabriele Poelchau. Die Psychotherapeutin wünschte sich mit ihrem Mann Klaus Czypull 75 Quadratmeter im oberen Stockwerk.

Die Initiatoren des Marthaprojekts waren zwischen 40 und 60 Jahre alt. „Wir wollten aber unbedingt junge Familien dazuholen“, sagt Czypull. Eine Gemeinschaft von Senioren hatte keiner im Sinn, eher das Miteinander der Generationen. Über Immobilienportale im Internet und bei Info-Veranstaltungen warb das Projekt um junge Zuzügler.

Zu einem Info-Abend kamen Evelyn Reischl und ihr Mann Anggelo Gutierrez. Das Ehepaar plante, mit seiner dreijährigen Tochter Noemi in eine größere Wohnung umzuziehen. „Wir wollten in der Stadt bleiben, mochten aber die Ellenbogenmentalität, die wir in der Südstadt kennengelernt hatten, nicht mehr“, erzählt die 33-jährige Lehrerin.

Es seien so viele Interessenten zu dem Abend gekommen, dass sie sich gar keine Chance auf eine Wohnung ausrechneten. Doch es kam anders: Sie bezogen 94 Quadratmeter in der Wohngruppe, die sich den Namen „Colorado“ gegeben hat. Vorab mussten sie die Aufnahmeprüfung bestehen. Schließlich soll nur ins Marthaprojekt einziehen, wer auch das Miteinander im Sinn hat. Er sei es aus Peru gewöhnt, dass man sich hilft, sagt Anggelo Gutierrez. „Es war für mich aber nicht selbstverständlich, dass es das in Deutschland auch gibt“, sagt er und schmunzelt.

Müll ausleeren

In der Marthastraße ist der 33-Jährige samstags schon mal damit beschäftigt, in der Wohnung einer Nachbarin Gardinenstangen anzuschrauben. Oder die Mülleimer neben dem Spielplatz sind zu leeren. An einem Sonntag im Monat sitzen die „Colorados“ beisammen und besprechen Aktuelles. Etwa zusätzliche Sicherheitsgitter an den Treppen für die Kinder.

Von denen gibt es immerhin 20 im Wohnprojekt. Gutierrez organisiert mit seiner Frau den „Arbeitskreis Kinder“ und möchte eine kleine Hausaufgabenbetreuung aufbauen.

Man könne auch im Wohnprojekt mal die Tür zumachen, betont das Paar. Tatsache sei aber, dass sie seit ihrem Umzug in die Marthastraße viel mehr Zeit daheim verbringen. Weil es im Garten – trotz der Güterzüge, die hinter dem Zaun vorbeidonnern – ruhig sei. Und Noemi hier ihre Spielkameraden habe.

Hinter der Idylle stecke viel Mühe und der Wille, das Projekt professionell anzugehen, sagt Gabriele Poelchau immer wieder. Die Gemeinschaft in der Marthastraße unterscheide sich von anderen, nicht so erfolgreichen Versuchen des Zusammenlebens vor allem dadurch, „dass wir von Anfang an eine fachkundige Begleitung hatten“. Eine Mediatorin, vermittelt vom Hof e.V., leitete die Gruppensitzungen. Derzeit wird unter den Bewohnern jemand gesucht, der bei Streit als professioneller Schlichter auftreten kann. Gepflegt wird grundsätzlich eine Gesprächskultur, in der niemand überstimmt, aber jeder überzeugt werden soll.

Der älteste Bewohner ist 79 Jahre alt, derzeit hat er den schönsten Balkon, „weil alle Nachbarn, die sich mit ihm den Laubengang teilen, ihre Blumen zum Karl gestellt haben“, sagt Poelchau. Am Laubengang müsse noch mal etwas verändert werden.

Dass sich hier Alte und Junge täglich begegnen, bereichere ungemein, sagt die 64-Jährige. Eine alleinerziehende Vietnamesin habe in Nachbarn Ersatz-Großeltern für ihr Kind gefunden. „Die freuen sich darüber unheimlich, weil die eigenen Enkel weit weg wohnen.“

Diese Sache mit Alt und Jung, dem Helfen und Füreinanderdasein, – sie soll, wenn es nach Poelchau geht, auch in die Zukunft weisen. „Ich wünsche mir schon, dass mal jemand nach mir oder meinem Mann schaut, wenn einer von uns krank wird.“ Nachbar Franz Walz ist 57 und bestätigt, dass es schön wäre, später im Alter mal Hilfe von Jüngeren bekommen zu können. „Aber ich erwarte nicht, dass mich ein Nachbar pflegt, wenn es mal so weit sein sollte“, betont Walz.

Für Gabriele Poelchau ist das Thema Altwerden in der Gemeinschaft zu komplex, als dass es jeder für sich bearbeitet. Der Verein „Lebenswerkstatt Martha“ habe Fördermittel beim Freistaat beantragt, um mit seiner bewährten Mediatorin zwei Jahre lang am Thema Altsein und Pflege im Wohnprojekt arbeiten zu können. „Es wäre toll, wenn das klappt.“

Poelchaus Traum ist es, eines Tages auf einem der Steinquader im Atrium des Gartens zu sitzen und Kindern aus dem Stegreif Märchen zu erzählen. Das Wohnprojekt werde sich weiterentwickeln, sagt sie. Das eigene Café soll Nachbarn aus dem Rest der Marthastraße einladen. Im Gemeinschaftsraum bietet eine Bewohnerin derzeit Bauchtanz an, Poelchau will dort mit anderen Yoga üben. Evelyn Reischl erwartet ihr zweites Kind und freut sich auf die Elternzeit. „Denn hier in der Marthastraße ist immer was los und wenn ich Hilfe brauche, dann finde ich die.“

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