Mord im Baumhaus: Dieser Fall schockte Nürnberg 1983
2.12.2018, 05:56 UhrKinder träumen von Baumhäusern. Sie sind Rückzugsorte, an denen Erwachsene nichts verloren haben, sind Mittelpunkt zum Lesen, Spielen, Schnitzen, Ausruhen und Träumen. Viele solcher Hütten sind nur über Strickleitern erreichbar, die sich hochziehen lassen, sobald sich unten ungebetene Gäste nähern.
Im Norden von Nürnberg ist so ein Baumhaus aber einmal zum Alptraum geworden. Anfang der 80er Jahre geriet es in die Schlagzeilen, weil sich dort Grausiges ereignet hatte. Abgründe taten sich auf, die selbst erfahrene Ermittler und Juristen erschütterten. Der Fall ist aber auch eine Geschichte über behördliche Pannen, die es einem jugendlichen Triebtäter ermöglichten, nach dem ersten auch ein zweites Mal einen kleinen Jungen zu missbrauchen und umzubringen.
Das Baumhaus stand auf dem Grundstück eines Schrebergartens an der Forchheimer Straße. Den Garten gibt es schon lange nicht mehr, heute steht da an der Ecke zur Erlanger Straße ein gläsernes Bürogebäude. Die Laube gehörte den Eltern von Bernd S., ihm überließen sie die hölzerne Hütte in der Krone einer Weide, in der er sich eingerichtet hatte. 1983 besuchte der 15-Jährige die Ludwig-Uhland-Schule. Im Laufe seiner Pubertät verspürte er eine Vorliebe für Jungen. In der Haft wird er einem Gerichtsgutachter später verraten, was ihn zu den Taten angetrieben hat: Ein "komisches Gefühl" sei immer über ihn gekommen, wenn er kleine Buben sehe. Beim Quälen der Kleinen werde das Gefühl noch stärker.
S. plant seine Taten minuziös. Wie aus Polizeiakten hervorgeht, fällt ihm in der damaligen Haupt- und Grundschule der achtjährige Michael G. auf. S. sucht seine Nähe. Am 30. Juni 1983 sieht er eine Gelegenheit, seine triebhaften Fantasien auszuleben. Am Ende einer gemeinsamen Gymnastikstunde bei einem Orthopäden lockt S. den Jungen schließlich mit dem Versprechen, dem Achtjährigen einen Froschteich zu zeigen, auf das Grundstück an der Forchheimer Straße. Der Großvater von Michael G. will seinen Enkel vom Gymnasikunterricht abholen, verpasst ihn aber knapp. Der Opa macht sich auf die Suche, stellt auch Bernd S. zur Rede, da er wusste, dass der 15-Jährige mit Michael in die Gymnastikstunde geht. Schließlich meldet der Opa sein Enkelkind als vermisst. Während einer großangelegten Suchaktion finden Einsatzkräfte den Jungen tot und nackt unter einem alten Autositz im Baumhaus. S. tischt der Kripo unglaubwürdige Versionen auf, will sich herausreden.
Nach wochenlangen Ermittlungen wird klar: Der 15-Jährige legte dem Buben eine Schlinge um den Hals und stieß ihn aus dem Baumhaus. Zuvor hatte der Mörder sich an dem Achtjährigen sexuell vergangen. Tagelange Verhöre entlockten S. das volle Geständnis.
Fatale Fehleinschätzung
Am 22. Juli 1983 kommt der junge Mann in Untersuchungshaft. Doch am 11. November desselben Jahren hebt das Gericht den Haftbefehl auf, S. wird unter Auflagen freigelassen. In ihrem Gutachten hält eine Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie eine Wiederholungsgefahr für "nicht wahrscheinlich". Außerdem beschreibt sie Bernd S. als einen "keinesfalls gemütslosen, unbeeindruckbaren Jugendlichen" und bescheinigt ihm eine "günstige Sozialprognose" — eine fatale Fehleinschätzung, wie sich vier Monate später herausstellen soll.
Nachdem sich für S. die Gefängnistore bis zur Hauptverhandlung geöffnet hatten, wird er wieder in die Schulgemeinschaft eingegliedert. Nach Abschluss der Ermittlungen erhebt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 1. März 1984 Anklage gegen S. wegen Mordes an Michael G. Am 13. März wird die Anklageschrift den Eltern des Jugendlichen zugestellt. Doch der hatte zu diesem Zeitpunkt schon einen zweiten Jungen im Visier: den Erstklässler Thorsten L. In einer späteren Vernehmung wird der dann 16-Jährige angeben, dass er den Siebenjährigen auf dem Sportplatz bei der Schule kennengelernt hat. S. sei Torwart beim Fußball gewesen, Thorsten habe ihm immer die ins Aus geschossenen Bälle geholt.
Am 29. März 1984 um etwa 12.30 Uhr passt S. den Siebenjährigen nach der Schule ab. Er verspricht ihm 20 Mark, wenn der Junge einen Brief von seinem Garten an der Forchheimer Straße zu einem Adressaten trage. Wenig später ist Thorsten tot. Anschließend geht der unter Auflagen freigelassenen Jugendliche nach Hause zum Essen und ist um 14 Uhr wieder in der Schule. Als an diesem Donnerstag der Erstklässler gegen 15.30 Uhr noch immer nicht in die nahe gelegene elterliche Wohnung zurückgekehrt ist, greift Thorstens Vater zum Hörer und verständigt die Polizei.
Als die Vermisstenmeldung auf dem Schreibtisch des Kriminalbeamten landete, der auch im Mordfall Michael G. ermittelte, schlugen bei diesem
die Alarmglocken. Mehrere Streifen machten sich noch in der Nacht auf den Weg zum Schrebergarten in Nürnberg-Thon. Um 0.15 Uhr wird der Schüler aus dem Bett heraus verhaftet. Die Beamten finden in S.s Kleidung einen Schlüssel zum Wohnwagen, der auf dem elterlichen Schrebergartengrundstück steht. Die Durchsuchung des Caravans führt dann gegen 1.50 Uhr zur traurigen Gewissheit: Unter der aufklappbaren Sitzbank liegt die nackte, missbrauchte Leiche des siebenjährigen Thorsten. Nachdem S. sich an dem Jungen vergangen hatte, stülpte er seinem Opfer eine Plastiktüte über den Kopf und schnürte ihm die Luft ab, bis der Siebenjährige qualvoll erstickte. Den Todeskampf des Jüngeren nahm S. auf Kassette auf, die Tonaufzeichnung wurde Monate später im Gerichtssaal abgespielt und sorgte für Entsetzen.
Im Dezember 1984 wurde das Hauptverfahren gegen S. vor der Jugendkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth eröffnet. Der Vorsitzende Wagmut Riege verhängte zehn Jahre Jugendhaft wegen Mordes. Nach dem Verbüßen seiner Strafe soll Bernd S. in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen werden. Die extreme sexuelle Abnormität des Angeklagten führte aber nicht dazu, diesen für schuldunfähig zu erklären, wie S.s namhafter Verteidiger Rolf Bossi forderte. Das Gericht stufte den 16-Jährigen als "erheblich vermindert schuldfähig" ein. Eine Revision Bossis blieb ohne Erfolg
Nach Informationen der Nürnberger Nachrichten ist S. noch nicht auf freiem Fuß. Mit einer Entlassung ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen.
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