Retuschen in historischen Bildern
Nachhilfe für die winterliche Romantik
28.12.2020, 19:07 UhrDer "Seemannfritz" war offensichtlich ausgesprochen frohen Mutes, als er zum neuen Jahr 1905 seine guten Wünsche versandte. Auch die Ansichtskarte, die er schickte, balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Bilddokument und Scherzartikel: Vor das verschneite Panorama des Nürnberger Frauentorgrabens ließ Fotograf Bernhard Lehrburger in der Bildmitte unten eine auf zwölf stehende Uhr und darüber einen schnauzbärtigen Mann mit Frack und Zylinder einmontieren, der dem Betrachter "Frohes Neues!" entgegenzubrüllen scheint.
Die jüngeren Leser/innen, die mit Nürnbergs Topografie vertraut sind, werden sich jetzt fragen, wie der Fotograf der historischen Aufnahme an dieser Stelle in solch luftige Höhen gelangte – und das mitten im Winter. Die Antwort ist banal: Die Vorlage des Bildes ist die heftige Retusche eines Fotos, das im Sommer aufgenommen wurde. Fotografieren im Winter bei miesem Wetter und gleißend hellem Schnee war vor 110 Jahren eine Tortur selbst für erfahrene Fotografen. Das konnte des Retuscheurs Pinsel schneller, billiger und meist auch besser. Heute ist die Winter-Version, die uns unser Leser Johannes Wiemann zur Verfügung gestellt hat, ein seltenes Sammlerstück.
Schulhaus musste Autos weichen
Und natürlich hing jener Fotograf bei der Aufnahme nicht am Siemens-Lufthaken oder in den Ästen eines Baumes. Er musste einfach nur ein Fenster öffnen. Denn auf dem eingeebneten Stadtgrabenabschnitt zwischen Kartäuser- und Färbertor stand damals ein großes Schulgebäude, das Kunstschulprofessor Albert Greul 1891 für die ABC-Schützen aus Tafelhof und der Lorenzer Altstadt errichtet hatte. Erst 1969 musste das Bauwerk im Stile der Neugotik, im Zweiten Weltkrieg kaum beschädigt und erst 1953 generalsaniert, dem "autogerechten" Ausbau des Frauentorgrabens weichen.
Die städtebaulichen Determinanten, die uns die Ansicht zeigt, gibt es aber noch, ja, das Stadtbild hat an dieser Stelle manch Bereicherung erfahren: Da ist links der gewaltige Bezoldbau des Germanischen Nationalmuseums. Das malerische Ungetüm mit einem himmelsstürmenden Dachreiter, der an den Vierungsturm einer mittelalterlichen Kathedrale erinnert, war damals erst drei Jahre alt. Direktor Gustav von Bezold hatte es, getreu dem Credo seines Amtsvorgängers August von Essenwein, in strenger Anpassung an das überlieferte (idealisierte) Bild Alt-Nürnbergs ebenfalls ins Gewand der Neugotik gekleidet. Links daneben duckt sich, hinter Bäumen versteckt, eine Halle, in der das Museum historische Geschützte seiner Waffensammlung präsentierte. Nach Totalschaden im Zweiten Weltkrieg wurde es 1947–1949 nach Entwurf von Otto Ebert durch die Gaststätte "Tucher-Bräu am Opernhaus" ersetzt – übrigens ein schönes Beispiel für die historisierende Strömung des Wiederaufbaus, die den Heimatschutzstil der NS-Zeit anknüpfte. Nach langem Leerstand soll der unter Denkmalschutz stehende Bau bis 2021 instandgesetzt werden.
Jenseits der Stadtmauer grüßt die von Gustav Ritter von Zenger entworfene große Kuppel des neubarocken Centralbahnhofes in die Stadtlandschaft, der 1900–1906 das erste, neugotische Empfangsgebäude ersetzte. Während die Kuppel 1945 zerstört wurde, fiel der Tambour erst beim Bau der U-Bahn 1972, als man ihn aus statischen Gründen gegen eine Klosterkuppel aus Stahl austauschte.
Dem Krieg völlig zum Opfer fiel das Haus mit dem Restaurant "Tiefer Keller" (Frauentorgraben 17), das auf der alten Ansicht direkt links neben dem Kopf des Zylinderhutträgers zu sehen ist. Der prunkvolle Bau, den Hans Müller im Jahr 1900 im Nürnberger Stil errichtet hatte, musste nach Kriegsschaden und Wiederaufbau in den 1970er Jahren der Niederlassung der Bausparkasse Wüstenrot weichen.
Winterkarte trifft in die Herzen
"Unser neues Theater", wie es der Seemannfritz beschriftet hat, steht dagegen noch immer: Das Meisterwerk des Berliner Star-Architekten Heinrich Seeling war zu dem Zeitpunkt, da unsere Winterkarte auf die Reise ging, gerade ein paar Monate vollendet und war schon drauf und dran, sich den Weg in die Herzen der Nürnbergerinnen und Nürnberger zu bahnen – mit Erfolg. Es wird sich zeigen, ob Nürnberg das mit seinem geplanten neuen Konzerthaus auch schaffen wird.
So ist unser letzter Beitrag in diesem Jahre ein Wiedersehen mit den "üblichen Verdächtigen" des Nürnberger Stadtbildes. Seien Sie gespannt, was das nächste Jahr bringt – neue Blicke auf das Bekannte und Einblicke in das bislang Unbekannte. Bis dahin: Rutschen Sie gut und bleiben Sie gesund!
Liebe NZ-Leser, haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Zeitung, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: nz-themen@pressenetz.de
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