Nur zwei Musen und ein Putto sind geblieben

22.6.2017, 11:42 Uhr
Das Kulturvereinsgebäude im Jahr 1962 neben dem ausgebrannten Ringkaufhaus (rechts).

© Gertrud Gerardi Das Kulturvereinsgebäude im Jahr 1962 neben dem ausgebrannten Ringkaufhaus (rechts).

Ein Grundstück mit Konfliktpotential: An den Bauwerken, die dort standen und stehen, schieden und scheiden sich die Geister. Viele Nürnberger überkommt beim Anblick des 1969 bis 1971 errichteten Gebäudes der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) das kalte Grausen. Der gewaltige Klotz mit seiner Verkleidung aus Stahlbetonplatten im Stil des Brutalismus hat die Herzen der Einwohner nie erobern können.

Würden wir mit Doc Browns DeLorean aus dem Science-Fiction-Filmklassiker „Zurück in die Zukunft“ ins Jahr 1811 reisen, fänden wir an derselben Stelle einen noch gewaltigeren „Klotz“ vor, nämlich ein Hornwerk – einen Wallabschnitt mit zwei Eckbastionen – der bayerischen Festung Nürnberg.

Nicht ganz farbecht, aber höchst beeindruckend – eine kolorierte Ansicht des neuen Kulturvereinsgebäudes aus der Zeit zwischen 1906 und 1908.

Nicht ganz farbecht, aber höchst beeindruckend – eine kolorierte Ansicht des neuen Kulturvereinsgebäudes aus der Zeit zwischen 1906 und 1908. © Verlag Rosa Pick

Auch dieser Klotz und die Festung im Ganzen haben die Herzen der Einwohner nie erwärmen können, denn sie hielten die Altstadt in einem goldenen Käfig, der jede Expansion verhinderte.

1866 kam die ersehnte Befreiung: König Ludwig II. entband Nürnberg von seiner Festungseigenschaft. Schon zuvor waren die Baubeschränkungen im Schussfeld der Wälle immer mehr aufgeweicht worden, und die Stadt hatte längst damit begonnen, sich über ihre Mauern hinaus auszubreiten. Promenaden mit öffentlichen Bauten, Geschäftshäusern und Mietspalästen nach Wiener Vorbild sollten die Ränder der Altstadt säumen.

Links Grün, rechts Jugendstil – um 1908 ließ es sich bei Restaurateur Ernst Tonndorf auf der Terrasse des Kulturvereinsgebäudes gediegen schmausen.

Links Grün, rechts Jugendstil – um 1908 ließ es sich bei Restaurateur Ernst Tonndorf auf der Terrasse des Kulturvereinsgebäudes gediegen schmausen. © Ferdinand Correll

Teil dieses Stadtumbaus war der Frauentorgraben, der seit 1865 Hauptbahnhof und Plärrer verbindet. Die Sache mit der Prachtbebauung kam schleppender voran als gedacht: Erst in den 1890er Jahren war der südliche Altstadtring einigermaßen geschlossen, dazwischen lagen noch öde Flächen.

Dem finanzstarken Industrie- und Kulturverein, dem das „Who is who“ der Nürnberger Unternehmerwelt angehörte, kam das zupass: An Stelle des abgetragenen Hornwerks ließ er sich vom Direktor des Bayerischen Gewerbemuseums Theodor von Kramer von 1901 bis 1905 einen Saalbau mit Gaststätte errichten, dem es an nichts fehlte, um Industrie, Kultur und Wissenschaft nach Kräften zu fördern und zu repräsentieren.

Diesen gewaltigen Klotz mochten die Nürnberger offenbar gut leiden, jedenfalls erfreuten sich Ansichtskarten des malerischen Baus großer Beliebtheit.

Dafür gab es gute Gründe: Die Innenräume waren reich im Jugendstil ausstaffiert, eine gewaltige Orgel dominierte die Bühne des Veranstaltungs- und Konzertsaals. Glanzpunkt war die Schaufassade zur Altstadt, in der sich ein Risalit mit ovalem Fenster, reichem Skulpturenschmuck und einem geschwungenen Dach erhob. Überlebensgroße Figuren – Terpsichore und Erato, die Musen des Tanzes und der Liebeslyrik –, die der Bildhauer Philipp Kittler geschaffen hatte, säumten das Portal.

Jugendstil im Jugendstil: Verleger Paul David präsentierte das Schmuckstück am Ring um 1909 in der Art eines zeitgenössischen Farbholzschnitts.

Jugendstil im Jugendstil: Verleger Paul David präsentierte das Schmuckstück am Ring um 1909 in der Art eines zeitgenössischen Farbholzschnitts. © Verlag Paul David

Die Nationalsozialisten, die sich zuvor im Deutschen Hof und im Opernhaus breitgemacht hatten, banden auch das Kulturvereinsgebäude in die Choreographie der Reichsparteitage ein. Am 15. September 1935 verabschiedete der Reichstag dort, wo sonst gesungen, musiziert und gefeiert wurde, die „Nürnberger Gesetze“.

Sie sollten einem der schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte – dem Massenmord an Juden, Sinti und Roma und allen, die nach dem Urteil der pseudowissenschaftlichen Rassenlehre als „minderwertig“ galten – den Weg bereiten. Heute erinnert eine Gedenktafel vor dem Versicherungsgebäude an dieses Ereignis und seine Folgen.

Vielleicht war es diese politische Belastung – neben Kostengründen und der allgemein eher ablehnenden Haltung gegenüber dem Jugendstil in den 1960er Jahren –, die dem Gebäude zum Verhängnis wurde: Der Industrie- und Kulturverein baute das im Bombenkrieg schwer beschädigte, im Äußeren aber noch weitgehend erhaltene Haus – Bühne und Hauptdach waren zerstört, die Fassade und das Vorderhaus standen noch – bis 1950 zwar teilweise wieder auf. Doch 1966 musste er es aus finanziellen Gründen gegen das Stadtparkrestaurant eintauschen.

Orchester-Ensemble und Orgel im großen Saal. Familie Fuchs verschickte diese Karte zum Jahreswechsel 1909/1910 an die Schuldienerswitwe Bolz in Nördlingen.

Orchester-Ensemble und Orgel im großen Saal. Familie Fuchs verschickte diese Karte zum Jahreswechsel 1909/1910 an die Schuldienerswitwe Bolz in Nördlingen. © Stefan Simon

Die Stadt Nürnberg fackelte nicht lange und tilgte Saal und Restaurant schon ein Jahr später aus dem Antlitz der Stadt, um Platz für den Neubau der AOK zu machen. Heute, 46 Jahre später, rächt sich das damalige Gottvertrauen in die modernen Baustoffe: Das Gebäude ist mit Asbest belastet, eine Sanierung laut Eigentümerin nicht sinnvoll.

Kürzlich hat die Versicherung Entwürfe des Hamburger Büros Gerkan, Marg & Partner für einen Neubau präsentiert (die NZ berichtete), und viele Einwohner hoffen, dass die Zeit der unförmigen Klötze am Frauentorgraben 49 vorbei ist. Die Musen Terpsichore und Erato und den pummeligen Putto, die man von der Jugendstilfassade gerettet hat, kümmert das wenig. Musizierend, tanzend und sinnierend schauen sie sich die Debatte um den Neubau der AOK aus sicherer Entfernung von ihrem Musenhain neben dem Mittelfränkischen Blindenheim an der Bielefelder Straße aus an.

Schmeichelt den Augen vieler Nürnbergerinnen und Nürnberger nicht: der Betonbrutalismus der 1971 vollendeten AOK-Geschäftsstelle.

Schmeichelt den Augen vieler Nürnbergerinnen und Nürnberger nicht: der Betonbrutalismus der 1971 vollendeten AOK-Geschäftsstelle. © Boris Leuthold

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