Ohne seinen Physiotherapeuten wäre Manuel Neuer noch immer nicht fit

8.6.2018, 20:53 Uhr
Ohne seinen Physiotherapeuten wäre Manuel Neuer noch immer nicht fit

© Foto: privat

Heute Vormittag habe ich mich selbst sportlich betätigt und natürlich habe ich mich verletzt. Laut Eigendiagnose brauche ich eine neue Hüfte. Sollte ich morgen ein Rezept über Krankengymnastik ausgestellt bekommen, wie lange müsste ich auf einen Termin bei dir warten, Jan?

Jan Dieckmann: Bis zum 6. Juli, ungefähr, vielleicht bis zum 9. Juli – fünf Wochen auf jeden Fall.

 

Was daran liegt, dass es zu wenige Physiotherapeuten gibt?

Dieckmann: Genau. Das liegt am Fachkräftemangel. Wir haben zwar im Mai eine neue Kollegin eingestellt – allerdings nach einem Dreivierteljahr Suche.

 

Warum bist du Physiotherapeut geworden?

Dieckmann: Ich habe Zivildienst in der Bahnhofsmission in Nürnberg geleistet, habe da teilweise die Leute medizinisch versorgt. Das hat mir getaugt, massiert habe ich auch schon immer gerne. Das habe ich dann auch zuerst gelernt und mich nach vier Jahren Knochenarbeit dazu entschlossen, den Physiotherapeuten weiterzumachen. War von morgens bis zwei Uhr in der Schule und habe danach noch in der Massagepraxis weitergearbeitet.

 

Wie viel Geld hast du in diese Ausbildung investiert?

Dieckmann: Damals habe ich monatlich 450 Euro gezahlt, eineinhalb Jahre lang. Im Normalfall aber dauern Physiotherapie-Ausbildungen drei Jahre. Auf 15 bis 20 000 Euro kommt man da schon.

 

Und wie finanziert man das als junger Mann, der zuvor nicht die Gelegenheit hatte, 450 Euro monatlich auf die Seite zu legen?

Dieckmann: Entweder mit Hilfe der Eltern oder man beantragt, so wie ich das gemacht habe, BAföG.

 

Schon abbezahlt?

Dieckmann: Nee, das geht auch gar nicht. Mit vier Kindern hat man da keine Chance.

 

Hast du irgendwann deine Entscheidung bereut, diesen Lebensweg eingeschlagen zu haben?

Dieckmann: Ja.

 

Ja?

Dieckmann: Ja! Was das Finanzielle angeht auf alle Fälle. Wir verdienen durchschnittlich 2300 Euro – brutto. Es gibt sicher viele Berufe, die weniger anstrengend sind, der Verdienst aber besser ist. Das ist klar, ob die dann auch so erfüllend sind, das ist die andere Frage. Ich liebe meinen Job. Jetzt würde ich nichts anderes machen wollen. Trotzdem bin ich unzufrieden.

 

Würdest du behaupten, dass deine Stimmung für die ganze Branche steht?

Dieckmann: Auf jeden Fall. Ich kenne Leute, die mit mir die Ausbildung gemacht haben, die jetzt etwas anderes machen, die noch ein Sport- oder ein Lehramtsstudium angehängt haben. Ein Bekannter ist in die Pharma-Industrie gewechselt, der verkauft jetzt bio-medizinische Produkte. Das Krasse ist, dass bei uns staatliche Einrichtungen besser zahlen als die freie Marktwirtschaft. Und das ist ja eigentlich total absurd. Und die haben Arbeitszeiten, ein Traum. 8 bis 16.30 Uhr. Das geht bei uns schon anders zu.

 

Nämlich?

Dieckmann: Wir arbeiten in einer Art Wechselschicht, das ist wohl auch normal, so weit ich das mitbekomme. Das geht bis 19.30 Uhr, 20 Uhr, allerdings fange ich dann auch später an. 38 Stunden arbeite ich in der Woche, weniger eigentlich nie, eher mehr.

 

Ist es noch so, dass viele Physiotherapeuten danach noch Sportvereine betreuen?

Dieckmann: Das gibt es, dass man in einem Sportverein ein zweites Standbein hat. Aber das wird auch immer weniger, weil die Vereine das nicht mehr so zahlen können oder die Vereine Probleme haben, überhaupt noch Physiotherapeuten zu finden. Immer weniger absolvieren die Ausbildung, immer mehr brechen ab. Das spüren auch die Sportvereine.

 

Was hast du heute gemacht?

Ohne seinen Physiotherapeuten wäre Manuel Neuer noch immer nicht fit

© Foto: Jürgen Feichter/Eibner

Dieckmann: Ich habe hauptsächlich Hausbesuche gemacht, ich war im Pflegeheim in Altenfurt, habe mit einer dementen Patientin Übungen gemacht, bin mit ihr mal wieder aufgestanden, habe versucht, mit ihr ein bisschen zu laufen, habe mich mit ihr über ihre Familie unterhalten, weil das auch ganz wichtig ist. Gerade die Dementen reden gerne und es ist wirklich ganz wichtig, dass ihnen jemand zuhört, weil dazu die Pfleger auch nicht immer Zeit haben.

 

Das geht dann aber weit über die Physiotherapie hinaus.

Dieckmann: Nee, das gehört dazu. Das gehört zu einer Anamnese und dann auch in den Befund. Das Psychosoziale ist Teil des Berufs. Gerade bei älteren Leuten, die zum Teil keine Kinder haben, ist wichtig: Wie kaufen die ein? Die müssen fit sein, um ihre Wege zu laufen, zum Arzt, zu uns in die Praxis. Da spielen viele Faktoren mit rein.

 

Wenn du nach einem langen, erfüllten, vielseitigen Arbeitstag reflektierst: Was überwiegt, die Zufriedenheit oder der Frust, dass eine solch wichtige Aufgabe von unserer Gesellschaft nicht entsprechend gewürdigt wird?

Dieckmann: Ich denke nach einem Tag, den ich als erfolgreich erachte, schon an die schönen Momente. Das ist wahrscheinlich dieses Helfersyndrom. Aber klar tut es weh, dass das in meinen Augen nicht gewürdigt wird, weder von Ärzten noch von Teilen der Gesellschaft.

Mit deinem Frust bist du nicht alleine. Gerade eben kommt die "Tour de Spahn" in Berlin an, unter dem Hashtag #ohnemeinenPhysiotherapeuten sprechen sich auf Twitter, Facebook und Instagram viele Prominente für eure Sache aus. Wobei, was heißt das eigentlich.

Dieckmann: Man muss sich das "was wäre" zu #ohnemeinenPhysiotherapeuten dazu denken. Bestes Beispiel ist Manuel Neuer, der es ohne die Hilfe seines Physiotherapeuten nicht zurück in die Nationalmannschaft geschafft hätte. Dafür gibt es noch viele andere Beispiele. Sportler wissen ziemlich genau, was sie an Physiotherapeuten haben.

 

Was erhoffst du dir persönlich von dieser Kampagne?

Dieckmann: Dass sich das im Gehalt bemerkbar macht. Natürlich geht es da um meine eigene finanzielle Situation. Und generell, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern, vor allem auch, dass wir mehr Zeit für Patienten haben. Derzeit ist es so, dass wir von den Krankenkassen einen Pauschalbetrag bekommen, bei der Krankengymnastik um die 17 Euro für gesetzlich festgelegte 15 bis 25 Minuten. In dieser Zeit sollen wir Termine vereinbaren, der Patient soll sich an- und ausziehen, erst dann geht es an Befund und Behandlung. Ich bin der Meinung, dass wir dem Patienten in dieser Zeit schon helfen können, aber lange nicht so, wie wir eigentlich könnten. Einen Patienten in der Akutphase mal 45 Minuten zu behandeln, wäre einfach nicht möglich. Und mit dem Fachkräftemangel wäre es auch praktisch nicht möglich. Jetzt geht es darum, dass wieder mehr Leute in den Beruf kommen. Dann könnte man auch die Bedingungen verändern.

 

Ein junger Mensch will Physiotherapeut werden, was rätst du ihm?

Dieckmann: Das kam natürlich schon vor, ich sage dann: Das ist ein wirklich schöner Beruf, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass man finanziell nicht weit kommt. Selbst wenn man selbstständig ist und noch keine große Praxis hat, schwebt ständig ein Damoklesschwert über einem. Wenn man selbst krank wird oder wegen 50 Wochenstunden Arbeit ausbrennt, dann hat man die Arschkarte gezogen. Ich bin seit 20 Jahren im Beruf, in dieser Zeit hat sich nichts verändert. Es ist eher so, dass einem die Krankenkassen immer mehr Steine in den Weg legen. (Jan verdeutlicht anhand eines Rezepts den ermüdenden bürokratischen Aufwand, der mit jeder Behandlung einhergeht. Er fasst sich kurz, trotzdem dauert es fünf Minuten – ohne Erkenntnisgewinn beim Fragesteller. Wichtig ist nur, dass jeder Fehler in der Abrechnung, egal, wem er unterläuft, dazu führt, dass der Physiotherapeut bzw. seine Praxis kein Geld bekommt. "Es ist zum Haareraufen.")

 

Sportler stellen oft fest, dass es wichtiger ist, einen guten Physiotherapeuten zu haben als einen guten Arzt. Kannst du dieser These zustimmen?

Dieckmann: Nein. Aber es ist mindestens genauso wichtig, einen guten Physiotherapeuten zu haben.

 

Aber Ärzte brauchen keine Hashtags, um auf ihre ungerechte Arbeitssituation aufmerksam zu machen. Macht dich das wütend?

Dieckmann: Natürlich. Wie lange muss man auf einen Orthopäden-Termin warten? Teilweise Monate. Wie lange dauert der Termin? Nach teilweise stundenlangen Wartezeiten drei, vier Minuten, in denen die Patienten zum Teil nicht einmal mehr ausreden dürfen. Er tippt dann auf das Erstbeste, schickt den Patienten zu einem bildgebenden Verfahren, Röntgen oder MRT – ein wahnsinniger Kostenfaktor. Aus meiner Erfahrung kommt es oft vor, dass Patienten nach monatelanger Odyssee von Orthopäde zu Orthopäde mit Schmerzmitteleinsatz zum Physiotherapeuten kommen und froh sind, dass ihnen endlich geholfen wird.

 

Wann ist eure Kampagne erfolgreich?

Dieckmann: Wenn die Politik dafür sorgt, dass Aus- und Weiterbildung nichts mehr kosten dürfen. Das ist der erste Schritt. Der zweite wäre, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Vielleicht hilft uns ja auch eine Sendung auf Vox.

 

Deutschlands bester Physio? Das große Physio-Duell? Massage impossible? Die perfekte physiotherapeutische Behandlung?

Dieckmann: Warum nicht? Das ist natürlich alles Spinnerei, aber schön wäre es schon, wenn die Menschen nicht erst auf die Probleme unseres Berufs aufmerksam werden, wenn sie selbst darunter leiden.

 

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