Quälende Feiertage: Angehörige berichtet über Corona-Tod ihrer Mutter
6.1.2021, 06:00 UhrDie 87-jährige Helene Müller (alle Namen geändert) wohnte vier Jahre in einem großen Seniorenheim im Südwesten Nürnbergs. Es gefällt ihr dort gut, zumal sie rasch Anschluss bei einer Mitbewohnerin findet. "Beide wurden bald unzertrennlich", berichtet Tochter Angelika Guttner, "das Pflegepersonal wusste genau, wo Frau Müller war, da war auch Frau Konrad nicht weit."
Mit Rollstühlen im Freien
Die Töchter der beiden Seniorinnen verabreden sich zu gemeinsamen Besuchen. Seit Beginn der Pandemie sitzen sie aber an getrennten Tischen mit ausreichend Abstand zueinander. Im Dezember kann man das Heim nurmehr mit einem negativen Corona-Test betreten. Die Einrichtung stellt keine Schnelltests zur Verfügung. Doch die Töchter dürfen ihre Mütter mit Rollstühlen im Freien herumfahren.
Am 10. Dezember sagt eine Heim-Mitarbeiterin ihnen hinter vorgehaltener Hand: "Wir haben jetzt Corona im Heim, aber noch nicht auf eurer Station." Darauf beschließen die Töchter, ihre Mütter in der folgenden Woche nicht zu besuchen, um sie keinem Risiko auszusetzen. Schließlich müssen die Seniorinnen vom Personal mit dem Aufzug aus dem fünften Stock zum Ausgang gebracht werden.
Quarantäne verhängt
Weihnachten will man sich aber wieder treffen. Beim Anruf, um den Termin zu vereinbaren, erfährt Guttner, dass das Altenheim seit 19. Dezember unter Quarantäne steht, die voraussichtlich bis nach Weihnachten dauert. Man sei aber zuversichtlich, dass ein Besuch am 31. Dezember wieder möglich ist.
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Am 22. Dezember erzählt die 87-jährige Müller am Telefon, dass sie ihre Freundin nicht mehr treffen könne. Denn kein Heimbewohner dürfe sein Zimmer verlassen. Die Tochter ruft tags darauf besorgt auf der Station an, um sich über die aktuelle Lage zu informieren. "Corona hat sich wie ein Flächenbrand im Heim ausgebreitet", teilt eine Pflegekraft mit.
Bohrende Ungewissheit
Nur über das Telefon kann man in Verbindung bleiben. Bohrende Ungewissheit, wie es weitergeht, quält die Tochter. Am 24. Dezember meint Müller noch: "Es geht mir gut." Ihre Freundin ist da bereits corona-positiv getestet, aber symptomfrei.
Dann kommt der 25 Dezember: "Ab diesem Tag konnte ich niemanden mehr im Heim erreichen", betont Guttner, "es ging einfach niemand mehr ans Telefon. Auch am Anschluss im Zimmer meiner Mutter hat keiner mehr abgehoben." Drei Tage später erreicht sie endlich einen Mitarbeiter der Verwaltung, der sie jedoch auf die Station verweist. Zu ihrem Einwand, dass dort das Telefon nicht mehr abgehoben wird, äußert er: "Die haben eben viel zu tun."
Gefühl der Ohnmacht
Guttner fühlte sich hilflos, ein Gefühl der Ohnmacht. Sie erfährt nichts und kann nur auf eine Mitteilung des Heims warten. Am 30. Dezember meldet sich eine Beschäftigte der Verwaltung: "Sie wissen ja, dass es ihrer Mutter sehr schlecht geht. Wenn sich ihr Zustand verschlechtert, wollen Sie dann, dass sie ins Krankenhaus kommt?"
Zum Impfstart: Das müssen Sie nun wissen
Für die Tochter ist das Telefonat ein Schock: "Ganz nebenbei" erfährt sie, dass ihre Mutter lebensgefährlich erkrankt ist. Sie habe Fieber, sei sehr schwach und bekomme Sauerstoff. Eine Palliativversorgung könne auch im Heim geschehen, teilt man ihr mit.
Anruf des Arztes
Trotzdem entscheidet Guttner, die Mutter solle im Falle einer weiteren Verschlechterung ins Krankenhaus. Am Nachmittag ruft ein Arzt aus dem Heim zurück und fragt, was sie sich von einen Verlegung ins Krankenhaus verspreche. Dort könne man auch nichts anderes machen als im Seniorenheim. Er würde seine Mutter oder Großmutter auf keinen Fall in die Klinik bringen, so hat die Tochter seine Aussage in Erinnerung.
"Der Arzt hat mich tatsächlich so verunsichert, dass ich mein Einverständnis zum Heimverbleib gab", erinnert sich die Angehörige. Am 31. Dezember um sechs Uhr klingelt erneut ihr Telefon: "Eine total gestresste Pflegekraft teilte mir mit, sie wird nun den Notarzt holen, die Sauerstoffsättigung im Blut meiner Mutter ist zu gering, sie will sich nicht anstecken und außerdem ist ihr alles viel zu viel Stress." Ein Anruf, der Guttner in große Unruhe und Angst versetzt.
Abschied am letzten Tag des Jahres
Im Fürther Klinikum erklärt man ihr, das Virus habe die Lunge der Seniorin so weit zerstört, dass es keine Aussicht auf Heilung mehr gebe. Am letzten Tag des Jahres verabschiedet sich die Tochter von ihrer Mutter. "Sie bekam im Klinikum Fürth die beste Palliativversorgung und ich konnte erleichtert und froh sein, dass sie sich gut betreut und schmerzfrei aus dem Leben verabschieden durfte." Am 1. Januar sei ihre Mutter friedlich eingeschlafen. Ihre Freundin aus dem Seniorenheim ist bereits tags zuvor im gleichen Krankenhaus verstorben.
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Angelika Guttner gehen seither belastende Fragen im Kopf herum: Hat die Heimleitung die Quarantäne nicht viel zu spät angeordnet? Schließlich war mindestens seit 10. Dezember Corona im Heim, aber die Bewohner gingen trotzdem noch aus und ein. Warum hat man sie nicht früher über den Zustand ihrer Mutter informiert? War sich die Heimleitung nicht ihrer Verantwortung bewusst? "Viele Fragen werden vermutlich für immer unbeantwortet bleiben", meint die Tochter traurig.