Sorge um Krebspatienten: 50.000 Operationen wegen Corona verschoben
12.8.2020, 06:00 Uhr"Man geht davon aus, dass in Deutschland wegen Corona rund 50.000 Krebsoperationen nicht stattgefunden haben", sagt der Krebshilfe-Vorstandsvorsitzende Gerd Nettekoven. Das sei fast ein Viertel aller Krebsoperationen im Zeitfenster der Pandemie bis Mitte Juni. "Unsere große Sorge ist, dass nicht alles, was verschoben worden ist, auch medizinisch vertretbar war," meint Nettekoven und warnt zudem vor einer "großen Bugwelle von verschobenen therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen", die zu lebensbedrohlichen Situationen für Krebspatienten führen könnte.
Früherkennung beeinträchtigt
Auch die Krebsfrüherkennung litt unter den Einschränkungen, von denen genauso die niedergelassenen Ärzten betroffen waren — manche Praxen hatten zum Beispiel wegen fehlender Schutzausrüstung mehrere Wochen lang geschlossen. "Wir befürchten, dass wir in nächster Zeit mit Patienten konfrontiert sein werden, bei denen die Diagnose sehr spät gestellt wird. Auch das kann fatale Folgen haben", so Nettekoven.
Eine Befürchtung, die Dr. Katica Krajinovic, Chefärztin am Operativen Zentrum für Allgemeinchirurgie am Klinikum Fürth nicht völlig von der Hand weisen kann: "Wir hier hatten im Mai und Juni bereits einige Patienten, die wir mit Darmverschluss bei fortgeschrittenem Darmkrebs als Notfall operieren mussten. Ob das eine Folge einer möglichen Verzögerung der Diagnostik ist oder purer Zufall, vermag ich nicht zu sagen."
Generell wurden Tumor-Operationen am Klinikum Fürth nicht verschoben, heißt es in einer Stellungnahme. Grundsätzlich habe während der Pandemie gegolten: Was nicht warten kann, wird sofort operiert. "Wir haben eine Kategorisierung vorgenommen. Hier sind die Krebsoperationen mit höchster und zweithöchster Priorität eingestuft worden, so dass wir diese Patienten nicht verschoben haben," so Krajinovic.
Ihr Kollege Prof. Andreas Blana, Chefarzt der Klinik für Urologie und Kinderurologie am Klinikum Fürth ergänzt: "Wir haben uns an die Allgemeinverfügung gehalten, dass nur Operationen stattfinden, die nicht auch drei Monate verschiebbar sind. Tumorpatienten und Notfälle konnten zeitnah versorgt werden."
Ähnlich die Situation am Klinikum Nürnberg. "Dringend notwendige Krebsoperationen wurden in unserem Haus immer durchgeführt. Vor allem in der Anfangszeit des Lockdowns mussten aus Kapazitätsgründen jedoch auch Krebsoperationen verschoben werden, die vom medizinischen Gesichtspunkt her verschoben werden konnten", erklärt Doris Strahler, stellvertretende Pressesprecherin am Klinikum Nürnberg. Kriterien für eine Verschiebung seien die Dringlichkeit, der individuelle Krankheitsverlauf, aber auch die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften gewesen. Zahlen über die Verschiebungen liegen laut Strahler nicht vor, es sei auch nicht bekannt, wie viele dieser Patienten dann später in einem anderen Krankenhaus behandelt wurden.
"Keine Bugwelle zu erkennen"
Eine Bugwelle, die eine rechtzeitige Versorgung von Krebspatienten behindere, sei im Klinikum Nürnberg nicht zu erkennen. Es gebe allenfalls für nicht dringliche Operationen mitunter eine etwas längere Wartezeit bis zum OP-Termin als vor Corona. "Sorgen machen sich die Klinikärzte allerdings um die Patienten, die aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus gar nicht erst den Weg zum Arzt oder ins Krankenhaus fanden oder finden. Zudem waren die Früherkennungsprogramme während des Lockdowns ausgesetzt. Allerdings ist es noch zu früh, um die medizinischen Folgen dieser Entwicklung beurteilen zu können", erläutert Strahler.
Krebshilfe-Vorstand Nettekoven hingegen widerspricht Darstellungen, dass der Rückgang bei Krebsoperationen vor allem daran liege, dass Patienten aus Furcht vor Ansteckung nicht in die Kliniken und Praxen gekommen seien. "Wenn 50.000 Krebsoperationen ausgefallen sind, dann hat das nichts damit zu tun, dass die Patienten nicht ins Krankenhaus gekommen wären."
Doch auch das Klinikum Fürth berichtetet, dass mehrfach Patienten ihre Termine abgesagt haben. Dr. Ulrike Proß, Oberärztin und Leiterin des Darmkrebszentrums: "Mein Eindruck ist, dass die Patienten schon Angst vor einer Covid-19-Infektion im Krankenhaus oder beim Arzt hatten. Auch bei uns wurden in einigen Fällen Termine auf Wunsch der Patienten nach hinten geschoben. Uns ist in der Zeit des Lockdowns ebenfalls aufgefallen, dass sich der Zustrom an neuen Patienten mit einer Tumordiagnose deutlich vermindert hat." Diese Situation bessere sich nun langsam. "Inwieweit es zu einer Bugwelle kommt, die uns in der Patientenversorgung behindert, dürfte vom weiteren Verlauf der Pandemie abhängen, " erläutert Proß.
Chemotherapie kaum betroffen
Notwendige Chemotherapien konnten und können am Klinikum Fürth in normalen Umfang durchgeführt werden. "Von den Kapazitätseinschränkungen waren wir auf der internistisch-onkologischen Station praktisch nicht betroffen," meint Proß. Auch das Klinikum Nürnberg berichtet, dass alle zeitkritischen Chemotherapien im nötigen Umfang durchgeführt wurden. "Chemotherapien, deren Verschiebung sich nicht verschlechternd auf die Prognose auswirkten, wurden in geringem Umfang auf einen späteren Termin verlegt. Aktuell werden alle Systemtherapien ausgeführt. Eine Bugwelle ist nicht zu erkennen", versichert Sprecherin Doris Strahler.
Kurz und knapp beantwortet die Uni-Klinik Erlangen die Anfrage unserer Redaktion: "Am Universitätsklinikum Erlangen wurden und werden keine dringenden Krebsoperationen verschoben. Chemotherapien und Tumoroperationen wurden und werden im üblichen Umfang weitergeführt – auch in Zeiten von Covid-19."
Krebshilfe-Chef Nettekoven fordert Konsequenzen aus dem Klinik-Shutdown im Frühjahr: "Selbstverständlich müssen für Covid-19-Patienten notwendige Versorgungsressourcen vorgehalten werden. Um aber auch Krebspatienten in solchen Situationen weiterhin adäquat behandeln zu können, sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht Universitätskliniken oder andere große Kliniken, an denen Krebszentren angesiedelt sind, zumindest entlastet werden können." Eine bessere Abstimmung und Vernetzung der medizinischen Versorgungseinrichtungen in der jeweiligen Region sei dafür zwingend notwendig.
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