"Sozialhilfe schnürte Armen immer ein enges Korsett"

12.03.2018, 19:56 Uhr

© Foto: Edgar Pfrogner

Lieber Siegfried, reden wir über die Anfänge. Wie ist "Freude für alle" entstanden?

Siegfried Ruckdeschel: Auslöser war 1969 ein tolles Foto eines NNFotografen, das zwei alte Männer vor dem ehemaligen Radio-Pruy-Schaufenster in der Adlerstraße zeigte. Vor ihnen all diese herrlichen Fernsehapparate, die sie sich nicht leisten konnten. Darüber haben wir geschrieben und uns gefragt: Wie geht’s eigentlich den anderen kleinen Rentnern?

Eine Frage mit Folgen.

Ruckdeschel: Ein Jahr drauf ging es los mit "Freude für alle". Vorläufer war unsere Serie "Das goldene Herz", die gebrauchte Sachen, vor allem Kleidung und Spielzeug, verteilte. Die Kollegin saß auf Mengen voller Kartons, es war sehr aufwendig. Wir müssen etwas mit Geld machen, das ist leichter zu verteilen, lautete dann der Beschluss. Als Zeitung fühlten wir uns in der Pflicht, wir wollten helfen.

Hattet ihr damals nur die Kleinrentner und -rentnerinnen im Auge?

Ruckdeschel: Es war mehr. Wir dachten auch an Leute, die sich scheuten, zum Wolferle zu gehen. So hieß damals das Wohlfahrtsamt, die Sozialarbeiterinnen waren Fürsorgerinnen. Übrigens: Von Anfang an wäre die Aktion ohne deren Unterstützung nicht denkbar gewesen. Bei ihnen habe ich dann nach Adressen von Bedürftigen gefragt, anonym natürlich.

Jeder, der knapsen musste, kam infrage?

Ruckdeschel: Wenn die Sozialarbeiter ihn empfahlen, ja. Rentner, Arbeitslose, Obdachlose, Kranke und Drogenabhängige. Aids war ein großes Thema — und die alleinerziehenden Frauen. Die ersten Scheidungswellen waren spürbar. Für mehr als 30 Zeitungsartikel brauchst du eine Bandbreite, um die Leserinnen und Leser zu erreichen.

Wie viel Geld hat die erste Weihnachtsaktion eingespielt?

Ruckdeschel: Ich muss nachschauen: 20 600 Mark. Das war ein schöner Erfolg, der Bericht über die Radio-Pruy-Rentner hatte im Jahr zuvor nur 824 Mark gebracht — allerdings unaufgefordert. Da hatten wir nur geschildert, wie sich diese Leute fühlen.

Erzähl doch bitte von den ersten Menschen, die du besucht hast.

Ruckdeschel: Da war ein Rentner, der hatte eine riesige Gasflasche am Bett stehen, weil er nicht gut schnaufen konnte. Oder zwei bitterarme alte Damen, die sich sehnlichst eine Weihnachtsgans wünschten. Jeden Tag ein Fall für die Aktion, der Fotograf und ich sind losgefahren, ohne zu wissen, ob wir jemanden antreffen würden. Da gab’s kein Handy, die Leute waren daheim oder nicht. Aber irgendwie hat es immer geklappt.

Das Geld, das eingeht, ist mehr geworden. Das Konzept "Freude für alle" hat sich nicht verändert?

Ruckdeschel: Das Wort "Freude" hat heute nicht mehr diese Daseinsberechtigung. In den 70er Jahren ging es um eine Weihnachtsgratifikation für Arme, 70 Mark pro Kopf etwa. Im Lauf von 20 Jahren haben wir festgestellt: Es braucht keine Zuckerl für Weihnachten, sondern Geld für Existenzielles. Wenn eine Frau ihre Brille beim Optiker nicht abholt, weil sie das Geld nicht hat, und weiter herumläuft mit Kopfschmerzen und Schwindel, dann ist Nothilfe das Thema.

Der Sozialstaat tat oder tut nicht genug für die Menschen?

Ruckdeschel: Seien wir ehrlich: Die Sozialhilfe hat den Armen schon immer ein enges Korsett geschnürt, auch vor Hartz IV. Aber man konnte noch mit den Sozialarbeitern reden. Heute geht alles nur nach Vorschrift. Eine Mutter mit drei Kindern, darunter ein Baby, flog aus ihrer Wohnung und fand nur eine neue, die teurer war als erlaubt. Das Jobcenter hat abgewinkt, sie sollte 100 Euro von ihren 390 Euro Existenzminimum für die Miete drauflegen.

Du kannst dich noch immer in Rage reden bei deinen Fällen . . .

Ruckdeschel: Das hört nicht auf. Die Frau hatte doch keine Wahl, mit Kleinkind in eine Obdachlosenpension, das geht nicht. In Nürnberg gibt es nicht Hunderte Sozialwohnungen, die leer stehen. Die Behörden ignorieren das aber.

Welche Fälle sind dir besonders nachgegangen?

Ruckdeschel: Da war ein Wohnungsbrand, alles stank bestialisch, die Familie hatte nur noch, was sie am Körper trug. Der Sohn sollte dann mit verräucherten Kleidern in die Schule gehen. Da wurden wir eingeschaltet und haben schnell geholfen.

© Foto: Edgar Pfrogner

2003, der Beginn der Hartz-Gesetzgebung, war ein spürbarer Einschnitt?

Ruckdeschel: Gerhard Schröders Agenda 2010 war ein starker Einschnitt. Das Existenzminimum reicht seither nur, wenn nichts dazwischenkommt. Geht ein Bett kaputt, weil die Kinder toben, müssen sie sehr lange auf dem Boden schlafen, bis das Geld beisammen ist. Die Leute bekommen etwas mehr Sozialhilfe, müssen aber Geld auf die Seite legen für solche Fälle. Aber wie soll das gehen?

Ist die Zahl der Notfälle seither erkennbar angestiegen?

Ruckdeschel: Wir haben jedes Jahr mehr Anträge, immer zwischen 200 bis 300 mehr. Als ich 1970 anfing, waren es 300, bei der letzten Aktion waren es 7348 Betroffene. Es macht mich immer wepsig, dass ich nie weiß, wie viel Geld eingeht und wie viele Menschen ich bedenken kann. Manchmal muss ich knausrig sein.

Aber auf die Spender und Spenderinnen kannst du dich verlassen?

Ruckdeschel: Oh ja, heuer haben wir die 50 Millionen vollgemacht, von 1970 an gerechnet. In letzter Zeit bekommt die Aktion mehr Tausender und mehr Erbschaften. Eine Amerikanerin, die aus Nürnberg stammt, hat uns 100 000 Dollar vermacht. Zwei Frauen haben uns 166 000 und 130 000 Euro vererbt. Der verstorbene Verleger Bruno Schnell gab jedes Jahr 20 000 Euro dazu. Von der Bundeswehr-Big-Band über den Bäcker bis hin zu Prominenten und großen Firmen helfen viele mit beim Spendensammeln. Das ist fantastisch.

48 Jahre nahe dran am Elend. Hat dich das verändert?

Ruckdeschel: Mein Weltbild war schon immer kritisch, Gerechtigkeit gibt es nicht. Ich selbst habe einfach Glück gehabt, ich war nie arbeitslos. Andere haben Pech. Dazu kommt: Es gibt so viele lumpige Löhne, trotz der guten Konjunktur. Da kommt wenig unten an. Dann gibt so viele Zeitarbeitsverträge, da verdient noch jemand mit an deiner Arbeit. Ein Mann schreibt uns, dass sein Lohn oft erst am 20. statt am Ersten des Monats kommt. Der sitzt auf einem Berg von Mietschulden.

7348 Schicksale, jedes Einzelne von ihnen ist vor Weihnachten 2017 über deinem Schreibtisch gewandert. Was quält die Leute am meisten?

Ruckdeschel: Dass die Mieten wahnsinnig steigen und die gesetzlichen Sätze dem nicht mehr gerecht werden.

Seit Jahren gibt es Kritik an den Lebensmittel-Tafeln, die ihre Kunden angeblich mit Almosen abspeisen. Gibt es den Vorwurf auch gegen die Weihnachtsaktion?

Ruckdeschel: Weniger. Aber manche sagen, die Tafeln trügen zur "Entskandalisierung" der Armut bei und die Weihnachtsaktion tue Ähnliches. Wenn man sich den Vorwurf zu eigen macht, dann muss man alles Gemeinnützige wie Wärmestube, Caritas und Stadtmission ablehnen. Den Schuh ziehe ich mir nicht an, wir bleiben bei unserem Grundsatz: Wir helfen unbürokratisch, ohne dass ein Cent für die Verwaltung weggeht. Dass wir nicht nachhaltig helfen können, ist klar.

Wer gehört heute vor allem zu den Spenden-Empfängern in der Region?

Ruckdeschel: Nur ein Beispiel: Der Sozialdienst des Klinikums, der anfangs auch keine "Almosen" verteilen wollte, schickt heute eine ganze Menge Anträge. Gerade die steigende Zahl psychisch Kranker liegt mir sehr am Herzen. Wir sind eine Leistungsgesellschaft; wer nicht leisten kann, dem wird das brutal gezeigt.

Ein Fall, den du nie vergisst?

Ruckdeschel: Es sind viele. Da war ein Iraker, dem fehlte ein Bein. Er war zum Minensuchen gezwungen worden, hatte einen Fehler gemacht und das Bein war weg. In der Innenstadt lebte mal ein Mann in einem Stadtmauerturm, der hatte einen total kaputten Rücken. Wenn wir kamen, ließ er uns einen Schlüssel an einer Schnur herunter. Dem haben wir auch mal Essen vorbeigebracht.

Dass du gelernter Buchhalter bist, war überhaupt kein Nachteil, oder?

Ruckdeschel: Es hat geholfen, ist ja viel Rechnerei dabei. Mein Nachfolger Wolfgang Heilig-Achneck, der schon seit Jahren mitarbeitet, wird die Weihnachtsaktion auch ohne Buchhalter-Diplom sehr, sehr gut weiterführen. Ende des Monats bin ich weg, auch wenn’s schwerfällt.

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