Tabuthema Abtreibung: "Ich bin kein schlechter Mensch"
5.6.2021, 05:53 Uhr"Wird das Abtreiben bei dir jetzt zur gängigen Verhütungsmethode?" Diese Frage bekam Maria von einer Arbeitskollegin zu hören, als sie eine Woche nach ihrer Abtreibung wieder am Arbeitsplatz erschien. Die Frage verunsicherte die 25-Jährige. Sie steht zu ihrer Entscheidung, spricht eigentlich auch offen darüber.
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Aber anders als die 374 Frauen, die sich vor 50 Jahren spektakulär im stern zu ihrer Abtreibung bekannten, will Maria anonym bleiben - zu viel sei passiert. 50 Jahre nachdem der Kampf für einen selbst bestimmten und legalen Schwangerschaftsabbruch an Fahrt aufgenommen hat, bleibt das Thema ein Tabu.
Ein Schwangerschaftsabbruch ist eine Straftat. So steht es seit 150 Jahren im Paragraph 218 Strafgesetzbuch (StGB). Eine Strafe muss Maria aber nicht fürchten. Denn seit 1975 sieht Paragraph 218 a vor, dass eine Schwangerschaft straffrei vor der zwölften Woche beendet werden kann, wenn sie von einem Arzt durchgeführt und zuvor eine Pflichtberatung stattgefunden hat.
Noch heute Konfliktthema
Als Alice Schwarzer 1971 ihren Text für den stern verfasste, wurde noch heimlich in Praxen, im Ausland oder mit Stricknadeln abgetrieben. Der öffentliche Aufschrei im stern half bei der Straffreiheit von Abbrüchen, ein Konfliktthema ist es aber noch heute. Extreme Haltungen prallen aufeinander: Auf der einen Seite die sogenannten Lebensschützer, die ein bedingungsloses "Ja" zum Kind fordern. Auf der anderen Seite diejenigen, die eine Streichung des Paragraphen 218 fordern.
Maria bekam ihren ersten Konflikt bereits bei der Pflichtberatung zu spüren. Schon vor dem Gespräch stand für die Auszubildende fest, dass sie abtreiben will. Nachdem die Pflichtinhalte der Beratung abgearbeitet waren, beharrte Maria auf ihrer Haltung und wünschte keine weiteren Informationen. Darauf reagierte die Beraterin wütend. "Sie hat zu mir gesagt, sie fühle sich von mir nicht wertgeschätzt, weil ich ihr die Möglichkeit nehme, mich weiter zu beraten."
In Bayern gibt es insgesamt 128 Stellen (Stand 2019), die staatlich anerkannte Beratungen durchführen. Allerdings gibt es auch Organisationen, die nicht neutral agieren und deshalb keine Beratungsscheine ausstellen dürfen. So ist das beispielsweise bei den Schwangerschaftsberatungsstellen der katholischen Kirche, die 2001 entschied, ihre Beratungen nicht mehr wertneutral durchzuführen.
Auch die Organisation Pro Femina, die namentlich nicht mit der staatlich anerkannten Beratungsstelle und neutalen Pro Familia zu verwechseln ist, berät nicht unparteiisch, sondern setzt darauf, Abtreibungen wo möglich zu vermeiden. Wie Mirjam Dauscher von Pro Familia Nürnberg erklärt, kam es in einigen Fällen bereits zu Verwechslungen. Sie weiß aber auch, dass es einige Frauenärzte und Frauenärztinnen gibt, die sehr empfindlich reagieren, wenn sie Patientinnen auf das Thema ansprechen. "Die Freiheit, für sich selbst zu entscheiden, ob und wenn ja, wann eine Frau ein Kind möchte, ist für uns ein Menschenrecht. Deshalb kämpfen wir bundesweit für die Entstigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen." Nach wie vor sei das Thema hochmoralisch besetzt.
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Die Moral wurde zu Marias zweiter Hürde. "Das Erste, was nach dem Gespräch passiert ist, war, dass meine Chefin hereinkam und sagte: ,Ich weiß, worüber du gesprochen hast‘." Marias erster Gedanke: "Das ist mein Arbeitgeber, der jetzt wissen will, ob ich für die Firma zur Last werde."
Damit lag sie daneben. Ihre Chefin wollte wissen, wieso sie überhaupt abtreiben möchte. "Ich habe ihr erklärt, dass ich mich noch nicht bereit dafür fühle, Mutter zu sein. Außerdem bin ich gerade noch in Ausbildung, habe keine finanziellen Mittel und wohne in einer Wohngemeinschaft." Das seien alles Ausreden, erwiderte ihre Chefin, sie sei kein Kind mehr, schließlich hätten Kinder keinen Sex. "Schlussendlich hat sie versucht, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Sie behandelte mich wie einen schlechten Menschen, der dumm und unüberlegt entscheidet."
Schwangerschaftsabruch in medizinischer Ausbildung
Dabei ist ein Abbruch fast immer alles andere als unüberlegt. "Nur, weil der Paragraph 218 a den Frauen gangbare Wege eröffnet, heißt das nicht, dass sie ihre Entscheidung leichtfertig treffen", erklärt Professor Karl-Heinz Leven, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg. Leven ist derjenige, der jungen Medizinerinnen und Medizinern das Thema aus historischer und ethischer Perspektive näherbringt. Alle Studierenden setzen sich in Levens Unterricht mit dem Status des Embryos auseinander. Dazu gehört auch der Schwangerschaftsabbruch. "In der Medizin ist das Thema nie tabuisiert gewesen."
Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die in Bayern Abbrüche vornehmen, sinkt laut Gesundheitsministerium. Während 2016 noch 121 Mediziner eine Genehmigung dazu hatten, waren es 2020 nur noch 97. Auch Mirjam Dauscher von Pro Familia Nürnberg bemerkt neue Entwicklungen: "Die Stimmung hat sich in den letzten Jahren verändert, was auf das Erstarken der rechtsgerichteten Strömungen zurückzuführen ist." Die AfD fordert beispielsweise, dass Schwangerschaftskonflikberatungen mehr "dem Schutz des Lebens dienen" sollen.
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Bei Maria ging der Druck weiter. Man habe ihr finanzielle Unterstützung angeboten, aber auch, dass ihre Vorgesetzte das Kind adoptieren könne. "Ich fühlte mich so unter Druck gesetzt, dass ich tatsächlich darüber nachgedacht habe, es zu behalten. Nicht wegen mir, sondern wegen meiner Chefin." Sie blieb aber bei ihrer Entscheidung und wusste, was auf sie zukommen wird: "Du hast Schmerzen, du blutest, du hast eine Geburt, ohne ein Kind zu bekommen. Beim ersten Mal haben die Blutungen vier Wochen angehalten."
Maria entschied sich für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch. Neben ihr war an dem Tag auch eine 40-jährige Frau bei der Ärztin. Diese habe ihrem Mann nichts davon erzählt. Rein statistisch war die Begegnung keine zufällige. Denn nicht nur ledige junge Frauen treiben ab, sondern in einem ähnlichen Maß auch Verheiratete. 2020 wurden in Bayern 12.365 Abtreibungen durchgeführt - ähnlich viele wie 1996.
Im Fokus steht derzeit das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, das im Paragraph 219 a StGB verankert ist. Dagegen wehrt sich seit einigen Jahren die Frauenärztin Kristina Hänel. Sie wurde 2017 verklagt, weil sie auf ihrer Website über Abtreibungen informierte. Mittlerweile dürfen Arztpraxen angeben, ob sie Abbrüche vornehmen, allerdings nicht, mit welcher Methode.
Eine Woche nach ihrem Abbruch ging Maria wieder in die Arbeit. Als eine Kollegin auf sie zukam und ihren Abbruch ansprach, war ihr klar, dass die Information die Runde gemacht hatte. Maria weiß, dass eine Abtreibung nie ein normales Thema sein wird, dazu gingen die Meinungen zu weit auseinander. Aber Aussagen wie, sie sei zu dumm zum Verhüten, möchte sie nicht mehr hören. "Das verkürzt das Thema total. Ich habe abgetrieben – ein schlechter Mensch bin ich deshalb nicht."
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