Trotz Ingenieurmangels auf der Straße

29.11.2012, 21:00 Uhr
Trotz Ingenieurmangels auf der Straße

© dapd

Das Brummen des Konjunkturmotors wird leiser. Unternehmen der bayerischen Metall- und Elektroindustrie erwarten schwächere Nachfrage, weniger Aufträge, weniger Arbeit. Die Ingenieurslücke schließt sich dennoch nicht von selbst: „Trotz der schlechteren wirtschaftlichen Lage hat sich der Fachkräftemangel kaum entspannt“, sagt Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der bayerischen Metall-Arbeitgeber Bayme-VBM.

Offene Ingenieursstellen in der Elektro- und Metallbranche sind derzeit laut bayme-vbm nur schwer zu besetzen, Mitgliedsunternehmen reden von einer „Beeinträchtigung ihrer Geschäftstätigkeit“. Andere Industriezweige singen das gleiche Lied. Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) zählte im Januar 80000 fehlende Ingenieure, ein Anstieg um knapp 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Manch fertiger oder werdender Ingenieur mag jubeln: Wenige Bewerber gleich gute Jobchancen. Doch diese Rechnung geht oft nicht auf. Zumindest nicht für Silvia-Nicoleta Ianovici und Maria Klein (Namen geändert). Sie gehören eigentlich zur Gruppe der Gesuchten. Doch bislang haben die 30 und 47 Jahre alten Ingenieurinnen andere Erfahrungen gemacht.

Ianovici ist Chemieingenieurin, nach ihrem Universitätsabschluss 2009 kam die Rumänin nach Nürnberg. Sie lernte Deutsch, ließ ihr Diplom anerkennen und bewarb sich bei Firmen in der Region – das tut sie noch heute. Eine knapp dreijährige Jobsuche in Zeiten des Fachkräftemangels? „Das hatte ich nicht erwartet, obwohl mir Berufserfahrung fehlt“, sagt sie. Sie bewirbt sich längst nicht mehr nur auf Ingenieursstellen, sondern auch als Chemielaborantin, Trainee, Praktikantin: „Eben auf alles, was es im Bereich Chemie gibt.“

Ans Aufgeben denkt auch Maria Klein nicht. Noch ist sie zuversichtlich, dass sie eines Tages eine Festanstellung bekommen wird. Klein hat im Gegensatz zur jüngeren Ianovici lange Erfahrung als chemisch-technische Assistentin, 2005 setzte sie ein Ingenieursstudium in der Verfahrenstechnik drauf. Sechs Jahre arbeitete sie anschließend für ein Energieunternehmen, bis dieses 2011 insolvent ging. Mittlerweile ist Klein bei einer Zeitarbeitsfirma untergekommen und arbeitet wieder im Energiesektor, jedoch zu schlechteren Bedingungen als ihre angestellten Kollegen.

Hohe Zahl an Leiharbeitern

Keine bedauerliche Einzelfälle. Einer aktuellen Studie zufolge sollte sich die bislang privilegierte Berufsgruppe auf härtere Zeiten einstellen. Grund: Die Kostensenkungsstrategien vieler Unternehmen begünstigen prekäre Beschäftigung, so Hermann Biehler vom IMU Institut in München. „Die hohe Nachfrage nach Ingenieuren kommt weniger aus der Industrie selbst, sondern größtenteils aus der Leiharbeitsbranche.“ Biehler hat die Arbeitsmarktsituation für Ingenieure untersucht — und beunruhigende Tendenzen aufgespürt.

Von flächendeckender Knappheit an Ingenieuren kann laut Biehler nicht die Rede sein. Zwar gäbe es Engpässe in bestimmten Bereichen oder Regionen. Dennoch werde der Bedarf überschätzt. „Die Zeitarbeitsbranche rekrutiert auf Vorrat.“ Dadurch erfasse sie zunehmend den Bereich der hochqualifizierten Fachkräfte – Tarifflucht und befristete Beschäftigung folgen. Darunter leiden laut Studie insbesondere die Jungingenieure: Dreiviertel des Zuwachses in der Leiharbeit betrifft Menschen unter 35.

„Hire and fire“

Doch auch für Erfahrene gibt es keine Jobgarantie, ihre Qualifikation schützt nicht mehr vor Arbeitslosigkeit. Ingenieure, die unverschuldet auf der Straße landen, haben es bei der Jobsuche oft schwer. Ihr Problem: Der hohe Grad an Spezialisierung. „Das Wissen ist so stark an ihren Job in einem bestimmten Unternehmen gekoppelt, dass es auf dem Arbeitsmarkt schlecht wiederverwertbar ist“, so Biehler. Denn Anlernen kostet Zeit und Geld, das der neue Arbeitgeber sich lieber spart. Die Qualifikation wird „entwertet“, zum Schaden der ganzen Volkswirtschaft. Die Arbeitsagenturen sehen bei Akademikern jedoch keinen Weiterbildungsbedarf – sie sind ja hochqualifiziert. Die „Spezialisierungsfalle“ schnappt zu.

Hinzu kommt die schwankende Konjunktur, die bei Entlassungen längst nicht mehr nur die Fließbandarbeiter betrifft. Wer heute gebraucht wird, kann morgen überflüssig sein – die zunehmende Leiharbeit begünstigt hire and fire. „Die Unternehmen schaden sich dadurch letztendlich selbst“ sagt Biehler. Sie gliedern die Ressource Wissen aus, überlassen sie Dienstleistern und Zeitarbeitsfirmen. Das alles klingt zu schlimm um wahr zu sein. Aber: „Wer an ein Ingenieurstudium denkt, sollte sich keine Illusionen machen, dass er mit Handkuss einen Job bekommt“, sagt Biehler.

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