Prominenz in Gostenhof

„Vergesellschaftet Bayern“: Besondere Konferenz lockt Menschen aus ganz Deutschland nach Nürnberg

Azeglio Elia Hupfer

nordbayern-Redaktion

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2.12.2024, 17:00 Uhr
Die Aula im Nachbarschaftshaus in Gostenhof war bis auf den letzten Platz gefüllt. Da der Andrang so groß war, wurde kurzfristig noch eine Liveübertragung per Video auf die Beine gestellt.

© vergesellschaftet Bayern Die Aula im Nachbarschaftshaus in Gostenhof war bis auf den letzten Platz gefüllt. Da der Andrang so groß war, wurde kurzfristig noch eine Liveübertragung per Video auf die Beine gestellt.

Seit im Herbst 2021 Berlin mit einer fulminanten Mehrheit für die Vergesellschaftung profitorientierter Immobilienkonzerne stimmte, ist das Interesse an dem Thema groß. Die Forderung nach Vergesellschaftung ist durch die erfolgreiche Kampagne der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" (DWE) mittlerweile von vielen anderen sozialen Bewegungen übernommen worden und auch in Nürnberg stellte sich zur damaligen Zeit eine zunächst kleine Gruppe die Frage, was eigentlich Vergesellschaftung ist. Nachdem das Interesse immer größer wurde, fassten vor rund eineinhalb Jahren Einzelpersonen und organisierte Menschen aus den Nürnberger Ortsgruppen der Interventionistischen Linken, Ende Gelände und Attac sowie aus der im Stadtrat sitzenden politbande den Entschluss, eine Vergesellschaftungskonferenz in Nürnberg zu planen.

Innerhalb von 48 Stunden nach Öffnung der Anmeldung zu der Konferenz mit dem Titel "vergesellschaftet Bayern - Wege in eine solidarische Gesellschaft" waren alle der rund 200 Plätze im Nachbarschaftshaus Gostenhof vergeben und in kürzester Zeit standen zudem über 100 Menschen auf einer Warteliste. "Wir waren so überwältigt von den Anmeldungen und wie viele Leute sich dafür interessieren", erzählt Georg vom Organisationsteam. "In einer Zeit, wo man oft denkt, die ganze Welt geht den Bach herunter, finden sich viele Menschen, die sagen ‚ich ertrage das nicht mehr, ich muss etwas tun‘", nennt der 51-Jährige einen möglichen Grund für die große Nachfrage.

Zunächst gab es im Organisationskreis noch Zweifel, wie viele Menschen man in Nürnberg mit dem Thema erreichen würde. Mit dem Wissen nach der Konferenz ist sich Georg sicher, hätte man auch einen Raum mit doppelter Kapazität füllen können. "Wir haben einen richtigen Nerv getroffen", freut sich der Aktivist für das Team, das stetig etwa aus 15 Menschen und in der Spitze aus etwa 30 Engagierten bestand. Ein Jahr lang traf man sich in der Freizeit alle vier Wochen, dann alle zwei Wochen und zum Schluss noch häufiger.

Prominenz zum Auftakt - Organisationsteam gelingt Coup

Das Ergebnis der monatelangen, ehrenamtlichen Arbeit: Drei Konferenztage im Nachbarschaftshaus Gostenhof mit 14 Workshops, drei Vorträgen zu thematischen Grundlagen und einer Podiumsdiskussion. Die Teilnahme ist auf Spendenbasis, jeder und jede zahlt so viel, wie er oder sie eben kann.

Bereits für die Auftaktveranstaltung war den Organisierenden mit der Zusage von Sabine Nuss ein Coup gelungen. Die Berliner Journalistin und Politologin ist eine der prominentesten Publizistinnen zum Thema.

Sabine Nuss war jahrelange Leiterin der Politischen Kommunikation bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und zuletzt Geschäftsführerin des Karl Dietz Verlags. Heute lebt sie als freie Autorin in Berlin.

Sabine Nuss war jahrelange Leiterin der Politischen Kommunikation bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und zuletzt Geschäftsführerin des Karl Dietz Verlags. Heute lebt sie als freie Autorin in Berlin. © vergesellschaftet Bayern

Nuss führte in einem kurzweiligen Vortrag in die Thematik ein, erklärte, was überhaupt Vergesellschaftung ist und verdeutlichte, wie ein neoliberaler Kapitalismus und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich der Forderung nach Vergesellschaftung zu einer Renaissance verhelfen. "Das Thema nimmt gerade sehr schnell Fahrt auf, ich kann mich vor Anfragen für Vorträge kaum retten", sagt Nuss, die auch als Podcasterin aktiv ist ("Armutszeugnis").

"Vision für ein besseres Morgen"

Am Samstag ging es bereits um 10.30 Uhr mit einer Keynote von Vincent Janz von Communia weiter. Janz schilderte den aktuellen Stand der Bewegung, für ihn sei Vergesellschaftung eine "Vision für ein besseres Morgen". Der Mitinitiator der ersten bundesweiten Vergesellschaftungskonferenz, die im Oktober 2022 in Berlin stattfand, zeigte sich im Anschluss begeistert: "Veranstaltungen wie diese hier sind hoffnungsvolle Erzählungen. Die Nürnberger Konferenz macht etwas Neues, schafft strategische Bündnisse - das gibt allen Initiativen in diesem Bereich neue Kraft."

Vincent Janz ist einer der Mitgründer von Communia. Communia ist ein eingetragener Verein, der Strategien für eine demokratische Wirtschaft, Vergesellschaftung und öffentlichen Luxus entwickelt.

Vincent Janz ist einer der Mitgründer von Communia. Communia ist ein eingetragener Verein, der Strategien für eine demokratische Wirtschaft, Vergesellschaftung und öffentlichen Luxus entwickelt. © vergesellschaftet Bayern

Die Aula im Nachbarschaftshaus war bereits am Samstagvormittag bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Organisationsteam stellte kurzfristig mithilfe des Medienzentrums Parabol und Freifunk noch eine Videoübertragung auf die Beine, sodass auch alle Interessierten von der Warteliste dem Vortrag des Mitgründers von Communia lauschen konnten. Anschließend führte der Jurist und Rechtswissenschaftler Georg Freiss von der Universität Regensburg unterhaltsam in die vermeintlich trockene Materie der gesetzlichen Grundlagen ein. Er zeigte auf, wie der "Vergesellschaftungsparagraf" Artikel 15 ins Grundgesetz kam und dass die Frage, ob er genutzt wird, in erster Linie eine des politischen Willens und der politischen Kräfteverhältnisse ist. Das Grundgesetz sei wirtschaftsoffen konzipiert und bevorzuge keine bestimmte Wirtschaftsordnung.

Aktuelle politische Brisanz

Nachdem in den drei Vorträgen die theoretischen Grundlagen für alle Teilnehmenden gelegt wurden, stellten nach einer gemeinsamen Mittagspause politische Gruppen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Institutionen ihre Arbeit vor und legten die Bedeutung von solidarischem Handeln und Denken für zukunftsweisende politische Initiativen dar. Diese Angebote deckten die vier zentralen Themenbereiche Care-Arbeit, Natürliche Ressourcen, Kultur und Theorie ab. In vielen Workshops zeigte sich die aktuelle politische Brisanz. Die Vorstellung einer seit bereits drei Jahren bestehenden Werksbesetzung und Selbstorganisation bei einem italienischen Autozulieferbetrieb brachte den Teilnehmenden im Zeichen des Notstands der deutschen Automobilindustrie wichtige Aspekte für solidarische Krisenstrategien näher.

Eine Radtour zu selbstverwalteten Nürnberger Kulturorten wie beispielsweise dem Projekt 31 verdeutlichte nach den jüngsten Meldungen über gekürzte Kulturetats in Städten wie Berlin und Erlangen die Bedeutung von kulturellen Freiräumen. Oder wie es ein Radtour-Veranstalter von KuRaGe e. V. ausdrückte: "Kultur muss auch aus der Kultur kommen und nicht nur von der Stadt organisiert werden." Das Workshop-Angebot machte klar, an wie vielen Orten mit großer Expertise und Vielfalt der Gedanke der Vergesellschaftung bereits Früchte trägt.

Abgeschlossen wurde die Konferenz mit einer Podiumsdiskussion. Die mit dem Frauenpreis der Stadt Nürnberg ausgezeichnete Ella Schindler moderierte die Diskussion zwischen Aktivistinnen und Aktivisten, die alternative Formen des Wohnens in die Tat umsetzen oder in diesen Bereichen für Veränderungen kämpfen. Unter anderem nahm eine Aktivistin von DWE Teil, die die Vehemenz des Themas deutlich machte: "Das kapitalistische Begehren nach Wohnraum ist groß und es droht, unsere Hausgemeinschaften, unsere Kieze und sogar unsere Familien zu zerstören. Es ist wahnsinnig gewaltvoll."

"Voller Erfolg"

"DWE gibt uns ganz viel Mut und Kraft und ich glaube, dass Vergesellschaftung auch in Nürnberg funktioniert", sagt Georg, der sich am Sonntagnachmittag über den Verlauf des Wochenendes freute: "Es sind richtig viele Leute zusammenkommen. Leipzig, Chemnitz, Berlin, Köln, Düsseldorf, Frankfurt war da und auch viele Menschen aus dem Ruhrgebiet. Es wurde sich vernetzt, viele Ideen sind entstanden. Wir haben sehr viel gelernt an diesem Wochenende. Das war ein voller Erfolg." Luise, ebenfalls Teil des Organisationsteams, bewertet das Wochenende als riesige Ermutigung für die zukünftige Arbeit: "Diese Konferenz hat gezeigt, dass wir viele sind, die für eine solidarische und gerechte Gesellschaft zusammenarbeiten wollen. Das Thema Vergesellschaftung ist damit definitiv im manchmal so verschlafenen Bayern angekommen."

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