Vergessene Namen

13.8.2010, 09:00 Uhr
Vergessene Namen

© Karlheinz Daut

Ehemalige jüdische Mitbürger und/oder ihre Nachkommen werden alljährlich nach Nürnberg eingeladen. Es gibt Gedenkfeiern, so zum Beispiel jetzt an den 15. September 1935 zur Erinnerung an die "Nürnberger Rassengesetze", die vor 75 Jahren in unserer Stadt verkündet wurden, "Stolpersteine" für ehemalige jüdische Bürger dieser Stadt werden gelegt. Also, es gibt eine bestimmte "Erinnerungskultur". Aber: Wer erinnert sich heute noch an die jüdischen Bürger dieser Stadt, die entscheidend am wirtschaftlichen Aufschwung, an der Industrialisierung der Stadt Nürnberg im 19. und 20. Jahrhundert beteiligt waren?

Gründer der Zweirad-Industrie

Wer kennt heute noch die Namen derjenigen, die im 19. Jahrhundert die Zweirad-Industrie in Nürnberg begründeten? Es waren fast ausschließlich Juden, hier nur ein paar Namen und Firmen: 1886 gründete Karl Marschütz die Hercules-Werke, die bereits 1905 Motorräder bauten.

Vergessene Namen

Die Herren Frankenburger und Ottenstein waren die Mehrheitsbesitzer der Victoria-Werke. Die Triumph-Werke waren in den Händen der Herren Adelung und Ringelmann, die Mars- und Ardi-Werke wurden geleitet von Herrn Jakobowitz, also, wie gesagt, der Großteil dieser Branche wurde durch jüdische Bürger eingeführt.

Sie waren nicht nur auf die Herstellung von Zweirädern beschränkt: 1909 begann Triumph die Schreibmaschinen-Herstellung, die Mars-Werke brachten auch Werkzeugmaschinen und so weiter auf den Markt.

Andere Branchen: Inhaber der 1855 von Johann Kaiser gegründeten Maschinenfabrik (vor allen für die Leonische Industrie) wurde später Dr. Heinrich Fuld, der den Betrieb zu einem bedeutenden Exportunternehmen ausbaute, Siegfried Mendle und Ing. Rosenthal wurden Inhaber der Armaturenfabrik Samuel Schatt, einer der ältesten Nürnberger Fabriken.

An jüdischen Unternehmen wären noch zu nennen: Loewi (Elektro-Metallurgie), Kahn & Söhne (Reißzeug), Gebrüder Goldschmidt (Metallwaren), Neu & Neuberger (N-Werke) und Gebrüder Saemann (Nürnberger Schraubenfabrik).

Sonderfall Bing

Einen Sonderfall stellt die von Ignatz Bing gegründete Nürnberger Metallwarenfabrik Gebrüder Bing dar, das Unternehmen konnte als "Industrielles Warenhaus" bezeichnet werden. Es hieß, die Gebrüder Bing haben Nürnberger Fabrikate verschiedenster Art - Küchen- und Hausartikel, Blechspielwaren, Gebrauchs- und Luxusgegenstände - in alle Welt getragen und den alten Spruch "Nürnberger Tand geht durch alle Land" aufs Neue bestätigt.

Ignatz Bing beschickte die Weltausstellungen in Chicago und Paris, wo er eine Kollektion hochqualifizierter Blechspielwaren zeigte. Bing wurde 1891 zum Kommerzienrat ernannt, erhielt die silberne Bürgermedaille. Als Heimatfreund erschloss er eine große Tropfsteinhöhle bei Streitberg, die nach ihm genannte "Bing-Höhle".

Mit den Bing-Werken ist bereits die berühmteste Nürnberger Industrie, die Spielwarenherstellung, erwähnt. Außer Bing sind noch andere jüdische Spielwaren-Industrielle zu nennen: Adolf Kahn - Schuco-Spielwaren, Dr. Erlanger - Trix-Spielwaren, Philipp Ullmann - Blechspielwaren aller Art (Tipp & Co). Fast ausnahmslos war in Nürnberg der Handel mit Hopfen in jüdischer Hand, um nur ein paar Namen zu nennen: Fleisch mann&Weilheimer, Buchmann, Kohnstamm, Salmann, Tuchmann & Söhne, Hopf & Söhne, die Gebrüder Steinlein. Um 1890 war Nürnberg der erste Hopfenhandelsplatz der Welt, noch vor London und New York.

Unter den Industrien, bei denen die Juden im Allgemeinen keinen besonders großen Marktanteil, in Nürnberg aber bedeutende Werke besaßen, seien unter anderem genannt:

Medicus-Schuhfabrik - Gründer Heimann & Landenberger, Lederwerke Kromwell, Noris Weinbrennerei, Gebrüder Metzger - Vereinigte Margarinewerke - Lang & Wohl, und last but not least die Gebrüder Rosenfelder - Tempo- und Camelia-Werke.

Wo werden all diese Namen genannt, auf welchem Denkmal in der Stadt sind sie eingraviert? Und wenn wirklich noch irgendwo ein Bauwerk steht, das mit den jüdischen Bürgern Nürnbergs, die, wie gesagt, sich um ihre Stadt verdient gemacht haben, in Verbindung gebracht werden kann, soll es wie die "Villa Rosenfelder" der Spitzhacke zum Opfer fallen?

Ein Erinnerungsstück

Das kann und darf nicht sein! Denn gerade dieses Bauwerk muss nicht nur als eines der wenigen Erinnerungsstücke an eine Periode in der Geschichte der Stadt Nürnberg im 19. und 20. Jahrhundert und an die Rolle, die die Juden, die von den Nazis mit Schimpf und Schande aus der Stadt vertrieben oder ermordet wurden, unter Denkmalschutz gestellt werden, sondern auch, weil es nach Aussagen von Experten einen sehr schönen, harmonischen Baukörper hat, einen wunderbaren Dachaufbau, und in einem guten baulichen Zustand ist. Die reich gegliederte Rückseite ist ebenfalls sehr gut erhalten, so dass ein Abriss keinesfalls zu rechtfertigen wäre.

Geschichtsträchtig ist auch die Tatsache, dass der in der Nazizeit amtierende Polizeipräsident Martin sich diese Villa unter den Nagel riss, von Häftlingen aus dem KZ Flossenbürg, die in der Nürnberger SS-Kaserne gefangen waren, Reparaturen durchführen ließ und diese auch einsetzte, um für ihn im angrenzenden Stadtpark einen Bunker zu bauen, der durch einen unterirdischen Gang von der Villa aus erschlossen war. Es gibt sicher in Nürnberg kein weiteres Gebäude, das in der gleichen Form aufzeigt, wie Nazi-Funktionäre mit sogenanntem arisierten jüdischen Besitz umgegangen sind.