Wenn Buchtexte hör- und fühlbar werden

14.3.2011, 00:00 Uhr
Wenn Buchtexte hör- und fühlbar werden

© Weigert/Montage: Hava

Eine Frau sitzt mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden. Regungslos, die Knie fest umschlungen, den Blick gesenkt. Plötzlich springt sie auf, ruft mit fester Stimme: „Das Dritte Reich!“ Ihre Augen funkeln.

Dorothea Tausch heißt die Schauspielerin mit den roten Haaren – und sie steht auf der Bühne des Kinosaals im Doku-Zentrum. Für Zehntklässler der Bertolt-Brecht-Realschule stellt sie Szenen aus verschiedenen Texten zum Nationalsozialismus dar.

„Neue Wege“ möchte Organisatorin und Schulbibliothekarin Andrea Rauch gehen, um „ bewegende Eindrücke“ bei den Realschülern zu hinterlassen. Fernab von trockener Geschichtsvermittlung will sie das dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit spürbar machen. Nur, wie kann man bei Jüngeren für vermeintlich trockene NS-Literatur Interesse wecken? Für die meisten Jugendlichen sei das Thema Drittes Reich weit weg, meint Rauch. Um Jugendliche zu erreichen, seien bewegte Bilder wichtig. Lesen bedeute aber auch, Buchtexte nicht nur über die Augen, sondern auch über andere Sinne – etwa die Ohren – aufzunehmen.

„Den Opfern eine Stimme geben“ heißt das Projekt, mit dem Rauch Literatur in Bewegung setzen möchte. Dafür hat sie Theaterpädagogin Tausch engagiert, die regelmäßig an Schulen ihre selbst zusammengestellte Hör-Collage aus Textauszügen zum Dritten Reich vorführt.

Mitreißender Zeitsprung

Tausch braucht weder Kostüme, noch Requisiten, um die vier 10. Klassen auf einen Zeitsprung in die NS-Zeit mitzunehmen. Temperamentvoll und überzeugend schlüpft sie in immer neue Rollen aus acht verschiedenen Texten, die sich mit kurzen Musikstücken abwechseln.

Mal verwandelt sie sich fünf Minuten lang in einen 15-Jährigen, der mit fanatischer Begeisterung von seiner ersten Begegnung mit dem Führer erzählt. Dann ist sie die Jüdin Judith Keith aus Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“. Die Arztfrau packt ihre Koffer, um ihren arischen Mann Fritz zu verlassen. In empörten Monologen beklagt sich Judith über die Zerstörung ihrer Ehe durch die Rassentrennung. Beklemmend nah fühlt man sich Judith in ihrer Verzweiflung. Auch im Saal ist es mucksmäuschenstill, als Judith erklärt, dass sie nicht warten wolle, bis ihr Mann sie hinauswerfe.

Schlagartig verlässt das Leben die Szene. Wie eingefroren steht Tausch auf der Bühne, als im Hintergrund ein jüdisches Volkslied angespielt wird. Überall im Saal ernste Gesichter.

Nicht alle Schüler können sich mit dem ungewöhnlichen Unterricht auf Anhieb anfreunden. „Unverständlich, auch von der Sprache her“, lautet Michaels (17) Urteil. Er schaue lieber Filme wie „Schindlers Liste“. Damit könne er mehr anfangen.

Nayla und Katharina (beide 16) sind beeindruckt: Ein Jahr lang haben sie sich in Geschichte mit dem prüfungsrelevanten Thema Nationalsozialismus beschäftigt. „Die Hör-Collage war viel interessanter, als nur ein Buch zu lesen“, meint Katharina. Fazit: Bücher zum Leben erwecken – als Experiment allemal lohnenswert!
 

Keine Kommentare