Wer zutritt, nimmt den Tod in Kauf
4.6.2013, 00:00 UhrManche Bilder prägen sich ein. Die von den Münchner U-Bahn-Schlägern zum Beispiel, die am „Arabellapark“ einen pensionierten Schul
rektor fast getötet hätten. Einer nahm aus dem Lauf heraus Anlauf und trat dem 76-Jährigen mit Wucht mit dem Schuh ins Gesicht. Eine Kamera hat die Hemmungslosigkeit, mit der diese Tat begangen wurde, aufgezeichnet.
Ähnliche, wenn auch weniger öffentlichkeitswirksame Fälle sind auch in Nürnberg passiert. Am U-Bahnhof Langwasser zum Beispiel, wo ein Schläger einen 36-Jährigen mit Schlägen und Tritten fast umgebracht hätte. Oder in der Königstorpassage, wo mehrere Männer einen 29-Jährigen so lange getreten und geschlagen haben, bis dieser das Bewusstsein verlor.
Einzelfälle? Offensichtlich nicht. „Tritte gegen den Kopf haben zugenommen“, sagt Polizeisprecherin Elke Schönwald. Im vergangenen Jahr wurde in Nürnberg im Schnitt einmal wöchentlich ein solcher Fall angezeigt. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres waren es laut Thilo Bachmann, Leiter des Kriminalfachdezernats 1, schon 46 Fälle.
Die juristische Einordnung solcher Delikte ist nicht immer leicht und unter Fachleuten nicht immer unumstritten. Staatsanwälte und Richter „stehen regelmäßig vor der folgenschweren Weichenstellung: ,nur‘ gefährliche Körperverletzung oder versuchtes Tötungsdelikt“, sagt Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) bei einer Pressekonferenz in Nürnberg. Die Einordnung hat nicht zuletzt auf die Strafe große Auswirkungen.
Bei der Beantwortung der Frage „gefährliche Körperverletzung oder versuchter Totschlag“ liefere die Gefährlichkeit von Fußtritten gegen den Kopf ein wesentliches Argument für den Tötungsvorsatz, fährt Merk fort. Wie gefährlich Fußtritte gegen den Schädel tatsächlich sind, wurde jetzt in einer gemeinsamen Studie der Hochschule Regensburg, der Universität Erlangen-Nürnberg und des Polizeipräsidiums Mittelfranken erforscht.
Dafür wurden unter anderem Dummys, Testpuppen, eingesetzt, wie sie auch bei Crashtests in der Automobilindustrie verwendet werden. Untersucht wurden die Folgen von Fußtritten mit festen Schuhen von oben nach unten auf den Kopf eines am Boden liegenden Opfers und Tritte mit dem Spann und der Schuhspitze.
Das Ergebnis ist letztlich wenig überraschend: Solche Tritte tragen „eine lebensbedrohliche Gefährlichkeit in sich — und zwar in jedem Fall“, sagt Mittelfrankens Polizeipräsident Johann Rast. Merk: „Wer so zutritt, dem muss klar sein, dass er damit den Tod seines Gegenübers herbeiführen kann; und zwar unabhängig von Faktoren wie der eigenen Konstitution oder den Schuhen, die er anhat.“
Intensivere Ermittlungen
Was das für Konsequenzen für die Praxis hat? Im Polizeipräsidium Mittelfranken startet im Juli ein zweijähriges Pilotprojekt: Jeder Fall „Fußtritt gegen den Kopf“ in Nürnberg wird ab dann automatisch von der Mordkommission (K 11) übernommen. Der Grund: Die Kripo könne einen höheren Ermittlungsaufwand betreiben, fährt Rast fort. Bislang war es so, dass Körperverletzungen von der Schutzpolizei in den einzelnen Inspektionen bearbeitet wurden.
Polizei und Justiz wollen das Thema „Fußtritte gegen den Kopf“ ganz hoch hängen. Am Ende könnten dabei mehr Verurteilungen wegen versuchten Totschlags herauskommen.
Fußtritte sind vor allem ein Phänomen des öffentlichen Raums. Oft werden Fremde oder Zufallsopfer zur Zielscheibe von Einzeltätern. Immer wieder ist Alkohol im Spiel. Wie viele solcher Taten tatsächlich begangen werden, ist unklar. Bekannt werden nur die angezeigten Taten.
Der Erlanger Kriminologe Prof. Dr. Franz Streng würde allerdings nicht so weit gehen, von einer Brutalisierung der Gesellschaft zu sprechen. Er beobachtet eher das Gegenteil. Die Zahl der Tötungsdelikte gehe immer weiter nach unten, sagt er. Gleichzeitig nehmen die Körperverletzungen zu. Für Streng heißt das: „Die Bevölkerung ist gewaltsensibler geworden.“ Sie erstattet schneller Anzeige.
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