Wo fast nichts übrig blieb von der Vergangenheit

25.10.2018, 12:45 Uhr
Ein Meer aus Giebeln und Türmchen im Morgenrot – das waren der Stresemannplatz und die Sulzbacher Straße nach dem Geschmack der vorletzten Jahrhundertwende.

© Eugen Müller (Sammlung Sebastian Gulden) Ein Meer aus Giebeln und Türmchen im Morgenrot – das waren der Stresemannplatz und die Sulzbacher Straße nach dem Geschmack der vorletzten Jahrhundertwende.

Es gibt historische Ansichten Nürnbergs, bei denen selbst der Experte Mühe hat, den Standort des Fotografen von einst zu ermitteln. Das ist besonders dann der Fall, wenn radikale Veränderungen die Situation völlig gewandelt haben. Eine solche radikale Veränderung, deren Spätfolgen das Nürnberger Stadtbild und die kollektive Erinnerung der Bewohnerschaft bis heute prägen, ist der Bombenkrieg. Die Sulzbacher Straße ist einer jener Orte, an denen er besonders verheerend gewirkt hat.

Als Fotograf Eugen Müller um 1900 sein Stativ auf dem heutigen Stresemannplatz – er trägt erst seit 1949 den Namen des deutschen Politikers und Friedensnobelpreisträgers Gustav Stresemann (1878–1929) – aufbaute, sah er sich dem Inbegriff einer gründerzeitlichen Vorstadt gegenüber: Vor ihm öffnete sich das westliche Teilstück der Sulzbacher Straße, damals eine von jungen Laubbäumen gesäumte Chaussee zur Sebalder Altstadt.

Links und rechts davon ragten die prunkvollen Fassaden der Wohn- und Geschäftshäuser mit ihren malerischen Giebeln und kecken Erkertürmchen in den Formen der Neorenaissance, des Klassizismus und des Nürnberger Stils auf. Für Müller war dies eine moderne Stadt – und zudem seine Heimat (seine Wohnung lag gleich rechts des Aufnahmestandorts im Haus Stresemannplatz 11) – ein Grund zum Stolz, etwas, das man zeigen wollte.

Neorenaissance und Nürnberger Stil

Die Brand- und Sprengbomben, die ab 1943 über den Gärten bei Wöhrd und dem Rennweg niedergingen, ließen von diesem Ensemble so gut wie nichts übrig. Und auch an den Nachfolgebauten der 1950er und 1960er Jahre haben jüngere Generationen so lange herummodernisiert, bis ihr ohnehin eher spröder Charme mehr oder minder erstorben war.

Verloren sind zum Beispiel die Häuser im Vordergrund auf der linken Seite der alten Ansicht: Das prächtige, villenartige Eckhaus Stresemannplatz 2 (ganz links, dunkles Dach) entstand 1877 nach Plänen von David Röhm in üppiger Neorenaissance. Es war das Zuhause des jüdischen Kaufmanns Julius Wertheimer und seiner Frau Hedwig, bis sie die Nationalsozialisten 1941 ins Konzentrationslager Riga-Jungfernhof verschleppten und dort ermordeten. Anstelle des Gebäudes steht heute ein funktionaler Ersatzbau von Adolf Hoffmann von 1956.

Von dem Doppelmietshaus dahinter (Sulzbacher Straße 46/48, rotes Dach), das der Dachpappen-, Teer- und Asphaltfabrikant Johann Peter Beck zwischen 1901 und 1902 von Hans Fourné im Nürnberger Stil errichten ließ, war nach dem Krieg nur noch der Keller übrig.

Heute sehen Stresemannplatz und Sulzbacher Straße im Nordosten von Nürnberg ganz anders aus: Die Väter des Wiederaufbaus taten ihr Bestes, um an das Gewesene anzuknüpfen – mal erfolgreich, mal weniger.

Heute sehen Stresemannplatz und Sulzbacher Straße im Nordosten von Nürnberg ganz anders aus: Die Väter des Wiederaufbaus taten ihr Bestes, um an das Gewesene anzuknüpfen – mal erfolgreich, mal weniger. © Boris Leuthold

Im Zeichen der "autogerechten Stadt" trat 1953 eine Großtankstelle an seinen Platz. Dem Geschäftshaus, das dort in unseren Tagen aufragt, kann man auf jeden Fall zugutehalten, dass es sich mit seinem Glasturm zur Straße hin von der Monotonie mancher seiner Nachbarhäuser absetzt.

Angesichts der Zerstörung – ob nun durch den Krieg oder danach – erstrahlen heute jene Bauten umso mehr, die noch von ihrer Vergangenheit zu erzählen und gleichzeitig das Auge des Betrachters zu erfreuen vermögen, so etwa das große Eckhaus (Stresemannplatz 1) am rechten Rand der aktuellen Aufnahme. Es ist mindestens das vierte an dieser Stelle. 1863 ließ sich dort der Kaufmann David Nußelt von Maurermeister Georg Meier anstelle eines bestehenden Gebäudes ein zweigeschossiges Wohnhaus errichten, das Bauunternehmer Mathias Eckart zwischen 1886 und 1887 nach Planung des Büros Ochsenmayer & Wißmüller durch einen kompletten Neubau ersetzen ließ.

Nachdem das Gebäude im Zweiten Weltkrieg total zerstört worden war, baute es Heinz Karlicek in den Formen seiner Zeit wieder auf und veredelte die Fassaden im Erdgeschoss mit Sandstein-Vorsatzplatten und einem auskragenden Flugdach. 1956 eröffnete dort die Bierkneipe "Kulmbacher Eck", heute ist hier das Steak-Restaurant "La Rustika" zu Hause.

Von den beiden prächtigen Mietshäusern mit den auffälligen Schweifgiebeln links hinter dem "La Rustika" hat nur das östliche (Sulzbacher Straße 45) den Bombenkrieg überdauert. Am prunkvollen Portal der Hofzufahrt mit ihrem kunstvollen Gitter ließen die Bauherren, die Tabakfabrikantenwitwe Babette Klüppel und ihr Sohn Franz, das Baujahr 1897 in römischen Ziffern verewigen. Schöpfer der monumentalen Baugruppe, die im Inneren luxuriöse Wohnungen bereithielt, war der Wiener Architekt Emil Edler von Mecenseffy, dem wir auch den Entwurf für die Gostenhofer Dreieinigkeitskirche verdanken.

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