Ehemals Obdachlose erzählen
Zehn Jahre auf der Straße gelebt: „Wir sind genauso Menschen - nur halt in einer scheiß Phase“
01.02.2025, 05:00 Uhr"Heute haben wir leider angenehmes Wetter", sagt Klaus Billmeyer vor dem Handwerkerhof am Hauptbahnhof Nürnberg und schaut in den Himmel. Die Teilnehmenden - in langen Daunenmänteln, mit Schals, Mützen und Handschuhen - lachen kurz, verstehen dann aber, dass das ja gar nicht ironisch gemeint war. Ja, an diesem Sonntag Ende Januar ist es kalt und bewölkt, aber trocken. Denn Kälte sei nicht das Problem, meint der Stadtführer. Sondern Regen und Nässe, das ist das, wovor sich obdachlose Menschen schützen müssen. Billmeyer weiß das so genau, weil er selbst zehn Jahre lang täglich nach einem Dach über dem Kopf gesucht hat.
Der 63-Jährige hat den wohl fränkischsten Dialekt, den man sich nur vorstellen kann, er trägt eine karierte Fleece-Jacke, hat einen dünnen Pferdeschwanz und eine Mütze auf. Jeden letzten Sonntag im Monat bietet der Straßenkreuzer-Verein aus Nürnberg eine offene Führung zum Thema Obdachlosigkeit an. Heute ist Klaus Billmeyer derjenige, der von seinem Leben auf der Straße erzählt.
Was wir eigentlich über obdachlose Menschen, über "Penner und Assis" in Nürnberg denken, will der 63-Jährige wissen. Als Antworten kommen "falsch abgebogen", "faul" und "viel Pech gehabt". Billmeyer widerspricht bei nichts, er versteht den schlechten Ruf - kein Wunder bei den Outifts, der schlechten Hygiene und dem Alkoholkonsum. Aber er macht auch gleich klar. "Wir sind genauso Menschen wie ihr - nur halt in einer scheiß Phase." Niemand wird als Obdachloser geboren und kaum jemand lebt aus Überzeugung auf der Straße.
Obdachlosigkeit kann jeden treffen
"In 95 Prozent der Fälle stecken Problemgeschichten dahinter", erzählt Billmeyer. Gewalt, Sucht, Arbeitslosigkeit oder das soziale Umfeld spielen fast immer eine Rolle. Jede und jeder könnte in seinem Leben mal in eine Situation kommen, aus der er ohne fremde Hilfe nicht mehr rauskommt. Er hat Manager, Ärzte, Fabrikarbeiter, Handwerker und Familien auf der Straße kennengelernt. Billmeyer ist sich sicher, dass Obdachlosigkeit jeden treffen kann.
Der Stadtführer spricht aus eigener Erfahrung. Sein Weg auf die Straße beginnt im Alter von 46 Jahren mit übermäßigem Alkoholkonsum und damit, dass er seinen Job verliert, weil er seinem Chef gegenüber aggressiv geworden ist. Dann kam eins zum anderen: auf dem Arbeitsamt ist er nochmal ausgerastet und hatte keine Lust mehr, sich um den Papierkram zu kümmern. Anderweitig helfen lassen wollte er sich auch nicht, "falscher Stolz". Was er konnte, hat er noch verkauft und musste dann seine 80 Quadratmeter-Wohnung, die er nicht mehr bezahlen konnte, verlassen. Danach lebte er zehn Jahre auf der Straße.
Ausreichend Angebote in Nürnberg
20 bis 25 Bier und Schnaps waren für Klaus Billmeyer ein ganz normaler Tag. Tagsüber Geld schnorren, um sich nachmittags aus dem Leben schießen zu können. Er weiß, dass es für Außenstehende manchmal nur sehr schwer zu begreifen ist, aber "man braucht den Alkohol und vielleicht auch Drogen, um dieses scheiß Leben mal zu vergessen", sagt er. "Das Leben auf der Straße macht dich körperlich fertig. Man verliert das Vertrauen zu sich selbst und zu anderen Menschen", erzählt der 63-Jährige.
Hilfsangebote gebe es in Nürnberg ausreichend, "für jedes Wehwehchen", aber solange man nicht selbst die Kraft und den Willen hat, aus dem Teufelskreis auszubrechen, könne einem niemand helfen. Das kann der Stadtführer selbst bezeugen.
Hotspot Hauptbahnhof: Alkohol, Drogen und Hilfe
Billmeyer erklärt, was der Hauptbahnhof für Menschen ohne Wohnung bedeutet. Hier kriegen Obdachlose alles, was sie zum Überleben brauchen. Er meint damit Alkohol, Drogen und Anlaufstellen, wie die Bahnhofsmission oder die Wärmestube. Dort bekommen Obdachlose eine Erstversorgung, warmes Essen, können duschen und Wäsche waschen - wenn sie denn wollen. Außerdem ist es dort warm, und viele Bereiche sind überdacht. Und sie wollen unter Menschen sein, "auch wenn wir es vielleicht nicht gerne zugeben".
Geschlafen hat der ehemalige Obdachlose nicht am Bahnhof, sondern im Nürnberger Süden beim Dokumentationszentrum, das war "seine Platte". Dort gab es eine Überdachung und es war ruhiger als in der Stadt. Der Reißverschluss vom Schlafsack war trotzdem immer offen und die Eisenstange lag auch immer neben ihm. Angegriffen wurde er zum Glück nur einmal, von anderen Obdachlosen. Es hätte zwar genügend Notschlafstellen oder Pensionen in Nürnberg gegeben, für viele sind sie aber keine Option. "Die Straße ist für uns immer noch sauberer und sicherer als die Notschlafplätze", kritisiert Billmeyer die Zustände einiger Einrichtungen.
"Man muss sich wieder öffnen"
Eigentlich nur durch Zufall hat er damit begonnen Flaschen zu sammeln, sich irgendwann Ziele gesetzt und ist dran geblieben. Beim Rock im Park-Festival hat er über das Wochenende Flaschen im Wert von 2700 Euro gesammelt. Ein Werkstattinhaber am Dutzendteich hat ihm daraufhin angeboten, seine vollen Tüten bei ihm lagern zu dürfen, wenn er im Gegenzug ein Auge auf die Werkstatt hat. Das war Billmeyers Anfang zurück in ein geregeltes Leben, auch wenn dieser Weg alles andere als ein Spaziergang war.
Er hat sich Menschen gegenüber wieder geöffnet und Vertrauen gewonnen, auch in sich selbst. Seit 2019 lebt er in einer Ein-Zimmer-Wohnung, gibt Führungen und betreut er das Straßenkreuzer-Projekt "Spende dein Pfand". Sein Rucksack steht trotzdem immer noch gepackt an der Tür - ob als Erinnerung oder als Mahnung an früher, wisse er bis heute nicht so genau.