Das hilft gegen den Winterblues in Corona-Zeiten
30.11.2020, 11:04 UhrWas unsere Launen beeinflusst, ab wann es gefährlich wird und was wir dafür tun können, um gar nicht erst in ein Tief zu rutschen, verrät Prof. Dr. med. Thomas Kraus, Chefarzt der Frankenalbklinik Engelthal und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Welche Faktoren beeinflussen uns in der dunklen Jahreszeit besonders?
Prof. Dr. med. Thomas Kraus: Das fehlende Licht beeinflusst unser Hormonsystem. Das "Schlafhormon" Melatonin steigt durch mehr Dunkelheit automatisch an, der Körper will zur Ruhe kommen und wird müde. Im Zusammenhang damit sinkt auch das "Glückshormon" Serotonin – man fühlt sich unausgeglichen, ist gereizter und missgestimmt.
Das heißt, die schlechte Laune ist ein natürlicher Vorgang?
Kraus: Eigentlich sieht es die Natur sogar vor, dass wir im Winter mehr schlafen – rund eine halbe Stunde pro Tag. Wir müssen "überwintern" sozusagen, der Stoffwechsel verändert sich, wir haben mehr Hunger und legen "Reserven" an. Die hormonelle Umstellung ist also erst mal keine Fehlfunktion des Körpers. Die Frage ist nur, wann die Abgeschlagenheit problematisch wird und man gegensteuern muss.
Inwiefern ist auch die moderne Gesellschaft Teil des Problems?
Kraus: Früher waren die Menschen auch im Winter mehr draußen unterwegs und bekamen automatisch mehr Licht ab – so konnte das herbstliche Defizit vielleicht besser ausgeglichen werden. Auch haben die Leute vor 50 Jahren generell eine halbe Stunde länger geschlafen. Die heutige Gesellschaft setzt sich ein Stück weit über die Natur hinweg. Es gibt mehr Anforderungen in Beruf und Alltag, mehr Mobilität, mehr Beleuchtung, die uns künstlich wach hält.
Depressive Personen haben ja oft das Bedürfnis, besonders viel zu schlafen...
Kraus: Ja, sie fühlen sich energielos, erschöpft und müde. Während es bei Gesunden in Ordnung ist, etwas mehr zu schlafen, kann bei depressiven Menschen zu viel Schlaf die Antriebslosigkeit aber sogar verstärken. Dann hilft eher Aktivität und mehr Licht aus dem Winterblues.
Der "Herbst- und Winterblues" ereilt uns ja jedes Jahr aufs Neue. Wieso sind solche Tiefs trotzdem wichtig?
Kraus: Jedes Jahr beklagen 50 bis 70 Prozent der Leute eine misslaunige, gereizte oder melancholische Stimmung in der kalten Jahreszeit, wenn es früh dunkel wird, vor allem dann, wenn die Zeit umgestellt wird. Das ist weniger ein pathologisches Phänomen als ein Aufruf, sich mehr auf das Wichtige im Leben zu besinnen. Wir denken über uns nach, werden ans Alleinsein und den Tod erinnert – nicht umsonst haben die Feiertage im November den Tod zum Thema. Auch deshalb, damit wir danach, im Frühjahr, wieder besser nach vorne schauen können. Es ist wie ein Tagesablauf: Morgens – im Frühling – sind wir voller Energie und haben Mut für Neues, Abends – im Winter – blicken wir auf das Getane zurück und denken darüber nach.
Nicht jede Verstimmtheit muss eine Depression sein. Ab wann weiß ich, dass ich Hilfe brauche?
Kraus: Der typische Winterblues hält meist nur ein paar Tage an und behindert meist nicht gravierend das Alltagsleben. Wenn die depressive Verstimmung aber länger als zwei Wochen dauert, man jeden Tag Symptome wie Freud- und Interesselosigkeit, Antriebslosigkeit und Konzentrationsstörungen bemerkt oder sogar Gedanken an den Tod hat, dann sollte man sich Hilfe suchen.
Kommen im Winter mehr Patienten zu Ihnen und in die Klinik?
Kraus: Tatsächlich kommen die Patienten oft im Herbst vermehrt wieder mit ängstlich-depressiven Beschwerden, während es in den Monaten Juni bis August ein regelrechtes "Sommerloch" gibt. Manche Patienten kommen sogar gezielt über Weihnachten in die Klinik, weil sie allein sind und Angst haben, in ein Loch zu fallen. Das sind auch Menschen ohne psychische Vorerkrankung, zum Beispiel nach Trennungen oder einem Verlusterleben.
Wie kann die Corona-Krise solche Stimmungstiefs beeinflussen?
Kraus: Durch die Krise nehmen psychosoziale Belastungsfaktoren wie Unsicherheit und Angst zu. Vor allem bei Personen, die für Stimmungstiefs besonders empfänglich sind, können diese Faktoren eine Depression ausbrechen lassen. Wir müssen damit rechnen, dass solche Fälle zunehmen, allerdings können Studien das bisher noch nicht belegen. Denn schon während des ersten Lockdowns sind nicht mehr Patienten als sonst in die Kliniken gekommen – vermehrt aus Angst, sich anzustecken. In vergangenen Pandemien kam es erst zu einem Anstieg bei psychischen Erkrankungen, als wirtschaftliche Einbrüche hinzukamen und zum Beispiel viele in die Arbeitslosigkeit stürzten.
Gibt es bestimmte Gesellschaftsgruppen, die besonders "empfänglich" für solche Belastungsfaktoren sind?
Kraus: Das kann jeden treffen. Was man herausgefunden hat, ist, dass ältere Menschen entgegen der weit verbreiteten Meinung oft besser mit der Pandemie klar kommen als jüngere. Denn sie haben schon ganz anderes erlebt – wie Kriege oder Wirtschaftskrisen – und haben daher weniger Angst. Jugendliche hingegen leiden anscheinend mehr, weil sie sich in der freien Entfaltung beschränkt fühlen und oft ihr Leben in Frage stellen.
Wie kann ich mich selbst gegen den Winterblues wehren?
Kraus: 20 bis 30 Minuten pro Tag Bewegung an der frischen Luft und Licht tanken, kann den Energielevel und das Defizit an Vitamin D aufbessern. Denn trotz bewölktem Himmel hat das Tageslicht noch rund 2500 Lux. Dabei sollten Gesicht und Hände möglichst nicht bedeckt werden. Menschen, die während des Tages keine Möglichkeit für einen Spaziergang haben, empfehlen wir die Lichttherapie mit einer Tageslichtlampe. Schon eine halbe Stunde damit beeinflusst die Stimmung positiv und verkürzt die Auswirkungen der dunklen Phase wirksam. Außerdem hilft gesunde Ernährung mit Vollkorngetreide, Nüssen und Wintergemüse – also dem, was die Natur zur Zeit eh für uns bereithält: Kohlarten wie Grünkohl, Rosenkohl, auch Brokkoli oder Walnüsse enthalten Vitamin B 6, B 12 und Folsäure. Das beeinflusst auch den Serotoninspiegel positiv.
Vor allem während des Lockdowns besteht bei vielen der Tag nur aus Arbeit und Essen, jeder Tag, auch das Wochenende, scheint gleich abzulaufen. Da stellt sich leicht Frust ein, sich auf nichts mehr freuen zu können. Wie können wir diese Gedanken verhindern?
Kraus: Wir sollten uns bewusst machen, dass die Situation endlich ist. Wir können auch schon Pläne für die Zeit danach schmieden, vom nächsten Urlaub träumen und einen positiven Zukunftsentwurf entwickeln. Wenn wir über die Vergangenheit nachdenken, hilft es, sich vor allem an die schönen Dinge zu erinnern. Auch Meditation ist eine gute Methode, um negative Gedanken leichter ziehen lassen zu können. Es ist sogar nachgewiesen, dass dadurch das Serotonin ansteigt. Wichtig ist allerdings, dass man sie regelmäßig in den Alltag einplant.
Mit welchen Methoden arbeiten Sie in der Praxis?
Kraus: Wir helfen den Patienten, Kraftquellen zu erschließen, motivieren sie zu verstärkenden Tätigkeiten, die mit einem guten Gefühl gekoppelt sind, z.B. Spaziergänge in der Natur, Musik oder kreative Tätigkeiten. In der kognitiven Umstrukturierung werden negative Gedanken erfasst und in positive umformuliert. Schließlich entscheidet jeder selbst, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Außerdem gibt es den wertschätzenden "inneren Dialog", bei dem man sich selbst Mut zuspricht und ein gutes "Selbstmitgefühl" trainiert. Zum Beispiel: "Möge ich glücklich sein", oder "Möge ich mich sicher und geborgen fühlen". So wird das Unterbewusstsein langfristig beeinflusst. Wir arbeiten an seelischen Blockaden und helfen den Patienten, Veränderungen herbeizuführen. Wir leiten sie zur Selbststrukturierung an. Immer geht es um einen achtsamen Umgang mit sich selbst.
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