Notfallszenarien

Nuklearer Notstand: Was im Atom-Ernstfall passiert - und was Sie tun sollten

Tobi Lang

Redakteur

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29.4.2022, 20:56 Uhr
Mit Geigerzählern lässt sich die Strahlenbelastung messen. Hier ein Foto aus der Nähe des sowjetischen Kraftwerks Tschernobyl, in dem es zu einem der schwersten Atom-Unglücke in der Geschichte kam. 

© ---/Ukrinform/dpa Mit Geigerzählern lässt sich die Strahlenbelastung messen. Hier ein Foto aus der Nähe des sowjetischen Kraftwerks Tschernobyl, in dem es zu einem der schwersten Atom-Unglücke in der Geschichte kam. 

Die Worte, die Wolodymyr Selenskyj wählte, waren dramatisch. "Diese Nacht hätte das Ende der Ukraine, das Ende Europas sein können", sagte der ukrainische Präsident nach dem mutmaßlichen Beschuss eines Atomkraftwerkes durch russisches Militär. "Die radioaktive Strahlung weiß nicht, wo Russland liegt, die Strahlung weiß nicht, wo die Grenzen eures Landes sind."

Spätestens seit dem Vorfall in Saporischschja ist auch in Deutschland die verdrängte Angst vor einer Nuklearkatastrophe wieder präsent. Zwar sind sich Experten einig, dass nach dem durch eine Rakete verursachten Brand in der größten Anlage des Kontinents kein radioaktives Material freigesetzt wurde. Nur: Was würde im Ernstfall geschehen, wie sähe die Reaktion auf einen nuklearen Notfall aus?

Deutschland, und das ist die gute Nachricht, ist vorbereitet. Zumindest in der Theorie. Es existieren Szenarien für alle denkbaren Nuklear-Notfälle. Dazu gehören neben einem Zwischenfall in einem deutschen Kernkraftwerk auch Probleme im Ausland.

Welche Notfallpläne existieren?

Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) unterscheidet zwischen Reaktoren im grenznahen Ausland, im Rest Europas und außerhalb des Kontinents. Besonders im Blick hat die Behörde, die für die Atom-Überwachung in der Bundesrepublik zuständig ist, alle Kraftwerke, die weniger als 100 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt sind. Dazu gehören etwa Chooz und Cattenom in Frankreich, Temlin in Tschechien oder Tihange in Belgien. Kommt es hier zu einem Zwischenfall, müsste der Katastrophenschutz besonders schnell reagieren.

Doch nicht nur für Unfälle existieren laut dem BfS konkrete Pläne. Man sei auch auf Terrorattacken, Transportunfälle und sogar Satellitenabstürze vorbereitet. Etwa 50 solcher Objekte mit radioaktiven Stoffen befinden sich aktuell in der Erdumlaufbahn. "Stürzt ein Satellit über Land ab, ist es unwahrscheinlich, dass eine große Anzahl von Personen erhöhter Strahlung ausgesetzt ist", so die Behörde. Lokal sind gesundheitliche Probleme aber möglich.

Die Pläne sind also vorhanden, nur: Öffentlich einsehbar sind die konkreten Maßnahmen für nukleare Zwischenfälle nicht.

Wie würde Deutschland im Ernstfall reagieren?

Das kommt auf die konkrete Gefahrenlage an. Wird der nukleare Notfall ausgerufen, bildet der Bund unter der Leitung des Umweltministeriums das sogenannte Radiologische Lagezentrum (RLZ). Das Gremium misst die radioaktive Kontaminierung - dafür stehen dem BfS Daten aus rund 1700 Sonden überall in Deutschland zur Verfügung.

Der Katastrophenschutz selbst ist jedoch Aufgabe der Bundesländer. Laut dem Bayerischen Umweltministerium sollte ab einer Strahlenbelastung von mehr als zehn Millisievert das Haus nicht mehr verlassen werden - die Evakuierung größerer Gebiete sehen die Behörden ab einem Wert von über 100 vor. Zum Vergleich: Ab einer Dosis von 3000 Millisievert stirbt ohne medizinische Hilfe etwa die Hälfte der Menschen, auch wenn sie der Strahlung nur kurz ausgesetzt waren - und das innerhalb von drei bis sechs Wochen.

Wie würde vor der drohenden Katastrophe gewarnt werden?

Die kurze Antwort: Mit jedem verfügbaren Mittel. Grundsätzlich gibt es etwa in Bayern keine feste Katastrophenschutzstruktur - diese Aufgabe übernehmen die Landkreise und kreisfreien Städte. Die mehr als 11.000 Sirenen im Freistaat würden aufheulen, die Polizei mit Lautsprecherwagen durch die Wohnviertel fahren - und Apps vor der nuklearen Gefahr warnen. TV- und Radiosender würden wohl das Programm unterbrechen. Mehr zu den Warn-Apps lesen Sie hier:

Und was kann ich jetzt tun?

Im Idealfall erfährt jeder Bürger unmittelbar, wie groß die Gefahr für ihn ist. Drohen schwere gesundheitliche Probleme, soll evakuiert werden - wenn möglich. Andernfalls kommt für das bayerische Umweltministerium ein ganzer Katalog anderer Maßnahmen in Betracht. Dazu gehören:

- Einfache Hygiene- und Dekontaminationsmaßnahmen, also beispielsweise eine normale Dusche oder das Wechseln von Kleidung nach dem Aufenthalt im Freien

- Einschränkung des Verzehrs bestimmter, möglicherweise radioaktiv kontaminierter Nahrungsmittel

- Schließen von Fenstern und Außentüren und das Abschalten von Lüftungs- und Klimaanlagen. Experten raten dann, wenn etwa eine radioaktive Wolke über der Stadt steht, Fenster und Türen mit Klebeband abzudichten

Wann ist Jod sinnvoll - und wann nicht?

Nach den Vorfällen in der Ukraine soll es mancherorts zu einem regelrechten Ansturm auf Jod gekommen sein. Apotheker und Experten warnen ausdrücklich vor einer präventiven Einnahme. Zwar können die Tabletten möglicherweise die Einlagerung von radioaktivem Material verhindern - gerade für Menschen mit Schilddrüsenkrankheiten kann Selbstmedikation aber auch schnell gefährlich werden.

"Wir empfehlen es nicht, einen persönlichen Vorrat anzulegen", schrieb das Bundesamt für Strahlenschutz erst vor wenigen Tagen auf Twitter - und reagierte damit auf die Ukraine-Panik. Der Bund hat eine Reserve von fast 190 Millionen hochdosierten Jodtabletten, die bei Bedarf verteilt werden sollen.

Die richtige Dosierung von Jod im Ernstfall ist durchaus diffizil. "Werden Jodtabletten zu früh eingenommen, kann das nicht-radioaktive Jod schon wieder abgebaut sein", teilt das BfS mit. "Werden sie zu spät eingenommen, kann radioaktives Jod zuvor bereits von der Schilddrüse aufgenommen worden sein." Dann käme der Schutz zu spät. Laien sollten also keine Experimente wagen.

Was ist, wenn ich mit radioaktivem Material in Kontakt gekommen bin?

Auch hierfür gibt es konkrete Pläne. Nahezu alle Szenarien sehen vor, dass schnell möglichst viele sogenannte Notfallstationen eingerichtet werden. "Diese sind für die Versorgung von möglicherwiese kontaminierten Personen vorgesehen", schreibt etwa das bayerische Umweltministerium. Dabei unterstützen das Technische Hilfswerk, die Polizei und die Feuerwehr. Behörden werden versuchen, die medizinische Versorgung möglichst lange aufrechtzuerhalten.

Und wie wahrscheinlich ist der nukleare Notfall jetzt?

Keine Frage: Der Krieg in der Ukraine ist eine Bedrohung, besonders aber durch konventionelle Waffen für die Bevölkerung vor Ort. Dass sich Staaten rund um Atomanlagen bekriegen, sei brandgefährlich, sogar beispiellos, sagte der Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), Rafel Grossi in der Tagesschau. Doch auch der Experte hält eine Katastrophe in einer Größenordnung von Fukushima für unwahrscheinlich.

Nuklearer Notstand: Was im Atom-Ernstfall passiert - und was Sie tun sollten

© BfS

Selbst wenn ein ukrainisches Atomkraftwerk direkt beschossen wird, führt das nicht zwangsläufig zu einer Katastrophe. "Damit es zu einem solchen Unfall kommt, muss das Kühlsystem beschädigt sein", erklärt Atomtechnik-Experte Sebastian Stransky von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) der Deutschen Presse-Agentur. Grundsätzlich halten viele Reaktoren sogar dem Absturz eines kleinen Flugzeugs stand. "Selbst wenn er beschädigt ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es zu einem kerntechnischen Unfall kommt."

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