Eine Biografie über Familientabus und seelische Kräfte

4.1.2016, 10:43 Uhr
Eine Biografie über Familientabus und seelische Kräfte

Die wenigsten Schwabacherinnen und Schwabacher werden Ella Stollberg noch kennen, eine bescheidene Frau, die von 1945 bis 1972 auf der Kappadozia und später im Hüttlingerhaus lebte. Eher in Erinnerung ist ihr Sohn, Oskar Stollberg, der von 1928 bis 1965 als Kirchenmusikdirektor in der Stadtkirche wirkte und noch bis 1995 das kulturelle Leben der Stadt mit prägte.

„Ich steh hier und singe. Ein Lebenslied mit zweiter Stimme“ ist die aufregende Biographie einer Frau, die im 20. Jahrhundert nicht nur zwei Kriege, sondern auch eine Unzahl weiterer Schicksalsschläge überstanden hat. Das dokumentarische und zugleich spannend zu lesende Buch stellt sich dem Thema von Familientabus und geht der Frage nach, wie seelische Widerstandskraft (Resilienz) entsteht.

Schwere Schicksalsschläge

Die elfjährige Ella eilt tagaus, tagein in der Mittagspause und nach der Schule durch Hannovers Straßen und trägt für ein Geschäft Hüte aus. Ihr Vater ist vor einem Jahr gestorben, deshalb hat sie sich selbst diese Arbeit gesucht, um ihre Mutter und ihre beiden Geschwister finanziell zu unterstützen. Im Alter von sechzehn Jahren verliert sie ihre Mutter. Sie muss ihren geliebten Beruf als Putzmacherin aufgeben und erlernt bei der Familie des Hausherrn den Haushalt.

Mit der Heirat eines selbstständigen Kaufmanns beginnt nun ein völlig ungesichertes Familienleben, das ihr unzählige Umzüge in ganz Deutschland und Wechselbäder zwischen Armut und Reichtum, Krankheiten, Unfällen und Todesgefahr beschert.

Sie übersteht zwei Weltkriege, vor allem aber die „Schande“ des Suizids ihres trotz allem geliebten Mannes, dessen Krankheit und Tod sie letztendlich in Abhängigkeit von ihren erwachsenen Kindern bringt. Über dreißig Jahre verbringt sie in der fränkischen Kleinstadt Schwabach, wo ihr ältester Sohn als Kantor ansässig geworden ist.

Fünfundzwanzig Jahre hat die Autorin miterlebt. Sie erzählt, wie sie ihre Großmama erlebte, und berichtet über den Konflikt zwischen Ella und ihrer Schwiegertochter Irmgard, der entstand, als sie über fünf Jahre in einer gemeinsamen Wohnung leben mussten. Bis zuletzt bleibt die Frage offen, was den Großvater denn in den Freitod getrieben hat. Am Ende wird das Familiengeheimnis – viele Jahre nach Ellas Tod – doch noch gelüftet.

Wiltrud Weltzer hat dieses sehr persönliche Buch nicht nur im Sinne der Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte geschrieben. Die in der Erwachsenenbildung tätige Gesangspädagogin und Therapeutin sieht in der Lebensgeschichte ihrer Großmutter vor allem eine Ermutigung: „Wie diese Generation von Frauen es geschafft hat, trotz all der Schicksalsschläge nicht verbittert, sondern heiter ins Alter zu gehen, das darf unserer Generation durchaus ein Vorbild sein“, findet sie.

Wiltrud Weltzer, „Ich steh hier und singe. Ein Lebenslied mit zweiter Stimme“, 184 Seiten, viele historische Schwarz-Weiß-Bilder, 9,90 Euro, ISBN 9783737577144, bei epubli erschienen und im Buchhandel erhältlich.

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