Essstörungen: Wenn die Lust zur Last wird
20.1.2018, 06:05 UhrFrau Planötscher, was genau bedeutet der Begriff „Essstörung“?
Claudia Planötscher: Es gibt vier verschiedene Formen von Essstörungen, die ziemlich gegensätzlich sein können. Da ist die klassische Magersucht, auch Anorexie genannt. Unter dem Begriff Bulimie versteht man die übermäßige Beschäftigung mit den Themen Essen und Schlankheit, einhergehend mit Essattacken. Das „Binge Eating“ umfasst ebenfalls wiederkehrende Anfälle von Heißhunger mit Kontrollverlust, aber ohne Gewichtsverlust. Und die psychogene Adipositas ist das übermäßige Essen, um unerfüllte Bedürfnisse zu erfüllen.
Woran erkennen Außenstehende, ob jemand an einer Essstörung leidet?
Planötscher: Das hängt vom Typ ab. Bei der klassichen Magersucht etwa sind Betroffene sehr stark auf die Art der Nahrung fokussiert. Da werden ständig Kalorien gezählt oder manche Lebensmittel komplett gemieden. Ein Body-Mass-Index [Körpermasse in Kilogramm dividiert durch Körpergröße in Metern zum Quadrat] von unter 17,5 ist ein Indiz für Magersucht. Anzeichen für Bulimie können eine einseitige Ernährung sein, oder wenn sich Betroffene nach dem Essen auf die Toilette zurückziehen, um zu erbrechen. Für das Binge Eating sind große Mengen an Nahrung typisch, etwa Limonade und viel Süßes. Außerdem stellt sich kein Sättigungsgefühl ein.
Was kann denn ein Auslöser für eine Essstörung sein?
Planötscher: Das kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Manche Menschen essen zum Beispiel aus Frust zu viel, weil sie sich ausgegrenzt fühlen. Die Magersucht kann auch mit hohem Leistungsdruck zusammenhängen, den sich die Menschen auferlegen. Das kommt oft in stark erfolgsorientierten Familien vor. Dort sind die Kinder so aufs Lernen fokussiert, dass sie nicht mehr ans Essen denken. Leistungssportler können ebenfalls betroffen sein, etwa Balletttänzerinnen, Skispringer oder Turner.
Gibt es eine bestimmte Gruppe, die besonders gefährdet ist?
Planötscher: Vor allem Mädchen und junge Frauen leiden an Essstörungen. Manche Studien gehen gegenüber Männern von einem Verhältnis von zehn zu eins aus. Doch auch immer mehr Männer leiden an Essstörungen. Schätzungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge ist in Deutschland eine halbe Million Menschen betroffen. Neben der Essstörung haben sie oft ein mangelndes Selbstwertgefühl und eine andere Körperwahrnehmung: Sie stehen vor dem Spiegel und denken, sie seien zu dick.
Wie sehr werden Jugendliche durch die Sozialen Medien und die Werbung beeinflusst?
Planötscher: Das kann eine negative Wirkung haben. Meine Töchter haben sich früher eine Model-Castingserie im Fernsehen angesehen, da wurden die Bewerberinnen als „Kleiderstange“ bezeichnet. So etwas kann Jugendliche schon beeinflussen und ein falsches Rollenverhalten vermitteln. Dazu gibt es eine interessante Untersuchung: Bis 1995 gab es auf den Fidschi-Inseln kein Fernsehen. Bereits drei Jahre nach der Einführung fühlten sich 74 Prozent der Mädchen zu dick – obwohl es dort als Schönheitsideal galt, ein bisschen stämmig zu sein.
Wie können Verwandte oder Bekannte den Betroffenen helfen?
Planötscher: Ganz entscheidend ist es, keinen Druck aufzubauen. Der kann das Problem noch verstärken. Trotzdem ist es wichtig, dass die Eltern mit ihren Kindern reden und sich beim Arzt vorstellen. Doch bei vielen Betroffenen müssen erst ein gewisser Leidensdruck und die Erkenntnis da sein, das etwas nicht stimmt.
Was leistet das Therapienetz Essstörung, für das Sie arbeiten?
Planötscher: Betroffene können zu uns nach Weißenburg kommen und sich beraten lassen. Wir können ihnen einen stationären Therapieplatz vermitteln und begleiten die Klienten auch nach der Behandlung noch regelmäßig. Denn die Rückfallquote nach einem Klinikaufenthalt ist hoch. Das Therapienetz ist bayernweit tätig. Wir haben uns nun in Weißenburg niedergelassen, um unsere Dienste auch außerhalb der Großstädte anzubieten. Denn ein langer Anreiseweg kann eine große Hemmschwelle sein, wenn man sich um eine Therapie bemüht.
Claudia Planötscher ist Diplom-Sozialpädagogin und Systemische Familientherapeutin. Seit Oktober 2017 betreut sie das „Therapienetz Essstörung“ in Weißenburg. Die Einrichtung ist bayernweit tätig und wendet sich mit ihrer hiesigen Geschäftsstelle an Menschen aus Weißenburg-Gunzenhausen und den angrenzenden Landkreisen. Das Angebot wird mit der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet, die Klienten müssen selbst nichts extra bezahlen. Weitere Informationen gibt es im Internet unter der Adresse www.therapienetz-essstoerung.de oder unter Telefon 09141/8733698.
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