Verschwendung: 230.000 Rinder landen jährlich im Müll
1.5.2021, 06:00 UhrZwölf Millionen Tonnen. Solche Zahlen sind schwer in Bilder zu fassen, die Heinrich-Böll-Stiftung hat es deshalb so versucht: Pro Jahr werden in Deutschland 230.000 Rinder einfach in den Müll geworfen. Das macht natürlich nur einen kleinen Teil des vermeintlichen Abfalls aus. Die Verbraucherzentrale rät, sich 480.000 voll beladene Sattelschlepper vorzustellen. Die bräuchte es, um all die jährlich verschwendeten Lebensmittel zu transportieren.
Zwölf Millionen Tonnen (bei 83 Millionen Einwohnern): Das ist der hierzulande laut des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft Jahr für Jahr produzierte Lebensmittelmüll – nach anderen Schätzungen könnten es auch bis zu 18 Millionen Tonnen sein. Weltweit sind es etwa 1,3 Milliarden Tonnen – und damit knapp ein Drittel der produzierten Nahrungsmittel, zu deren am Ende nutzloser Erzeugung etwa 4,4 Milliarden Tonnen Treibhausgase verbraucht werden.
800 Millionen hungern
Noch ein Bild, gezeichnet von Greenpeace: Wäre die globale Lebensmittelverschwendung ein Land, würde es sich um das Land mit den dritthöchsten CO2-Emissionen (nach den USA und China) handeln.
Und weltweit hungern etwa 800 Millionen Menschen. Aber man kann auch in Deutschland bleiben, wo die Armutsquote im Jahr 2020 laut des Paritätischen Armutsberichts mit 15,9 Prozent einen traurigen Höchstwert seit der Wiedervereinigung erreicht hat. Es kann selbst in diesem reichen Land am Nötigsten fehlen.
Containern kann strafbar sein
Wenn Johanna Wiglinghoff versucht, Nahrungsmittel aus Supermarkt-Müllcontainern zu retten, um sie Bedürftigen zukommen zu lassen, macht sie sich trotzdem strafbar. Das sogenannte Containern kann Hausfriedensbruch oder Diebstahl bedeuten. "Wir finden es ja auch absurd", das, erzählt sie, habe sie schon oft von Polizisten gehört, nur, leider – das Gesetz ...
Es wird kaum eine andere Art des formalen Diebstahls geben, die auf eine so hohe gesellschaftliche Akzeptanz stößt. "Mundraub" war ein 1975 aus dem Strafgesetz gestrichener Begriff, es gab Jahre, die Hungerjahre nach dem Krieg, in denen ein großer Kardinal, der Kölner Erzbischof Josef Frings, den Menschen seinen Segen dazu gab, Gesetze notfalls zu ignorieren. "Der Einzelne wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat", sagte er. "Fringsen" nannten das die Leute fortan.
Foodsharing wächst
Johanna Wiglinghoff hat sogar einen Preis bekommen, den "Ehrenwert"-Preis der Stadt Nürnberg – nicht ausdrücklich fürs Containern, das Fringsen der Gegenwart. Aber für die Rettung von Lebensmitteln. "Foodsharing" heißt die stark wachsende bundesweite Initiative, es geht darum, überflüssig gewordene Nahrungsmittel (aus Privathaushalten, dem Handel, Restaurants, der Landwirtschaft) zu verteilen – dass sie viel Zuspruch erfährt, muss Johanna Wiglinghoff eigentlich gar nicht erzählen.
Denn dass man Essen nicht wegwirft, lernt jeder Mensch schon als Kleinkind. Trotzdem geschieht es, "und was wir tun", sagt die Sozialarbeiterin Wiglinghoff, "ist ja nur Symptombekämpfung". Damit, sagt sie, kann jeder beginnen, sie ermuntert dazu – aber kennt natürlich auch die Statistiken, und die zeigen, wie groß und vielfältig das Problem ist.
Sie besagen relativ übereinstimmend, dass rund die Hälfte aller Lebensmittelabfälle in Deutschland in privaten Haushalten entstehen, laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft sind es 52 Prozent. Weitere 18 Prozent macht die Verarbeitung aus, 14 Prozent die Gastronomie, zwölf Prozent die Primärproduktion (die Landwirtschaft). Auf den Handel würden demzufolge nur vier Prozent entfallen.
Allerdings, sagt Johanna Wiglinghoff, habe gerade der Handel "auf Landwirtschaft und Verbraucher großen Einfluss", weil viele Produkte oft wegen kleiner Schönheitsfehler in Form oder Farbe (oder weil sie nicht billig genug sind) gar nicht erst in die Märkte kommen – und weil das Angebot zur Verschwendung gewissermaßen einlädt. Primär Privathaushalte in Haftung zu nehmen, findet sie "nicht fair".
Das Problem wird verlagert
Stig Tanzmann teilt diese Ansicht. "Das Problem wird ins Private verlagert, jeder soll sich schuldig fühlen", sagt der Landwirtschafts-Experte des Hilfswerks Brot für die Welt. Der Markt, formuliert es Tanzmann, "ist darauf angelegt, Menschen hungrig zu machen, die das nicht sind, und Menschen werden von der Werbung verführt, Dinge zu kaufen, die sie gar nicht brauchen".
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So entsteht der Überfluss, mit dem umzugehen die meisten Menschen überfordert sind. Lebensmittel werden weggeworfen, darunter auch solche – laut Erhebungen macht das fast zwei Drittel davon aus –, die noch gut genießbar wären. Laut einer GfK-Studie sind es vor allem Obst und Gemüse (37 Prozent), Fertiggerichte (25 Prozent) sowie Brot- und Backwaren (16 Prozent). "Zahl zwei, nimm drei", solche Angebote, sagt Johanna Wiglinghoff, würden zur Verschwendung verlocken.
Reiche verschwenden mehr
Dass es ein Problem des Überflusses ist, zeigen auch diese Zahlen: Formal höher gebildete Menschen und die mit einem überdurchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen werfen die meisten Lebensmittel weg.
Auf der anderen Seite steht der Druck auf die Erzeuger, "unfaire Preise für die Bauern", so Tanzmann, seien ein wesentlicher Teil des Problems – und verändern auch die Mentalität. "Die Strategie großer Teile des Handels, Lebensmittel zu ständigen Discountpreisen und als namenlose Handelsmarken zu vermarkten, trägt auf Dauer zu einem Bedeutungsverlust der Lebensmittel in den Augen vieler Verbraucher bei", stellt der Bayerische Bauernverband fest und verweist darauf, dass für Nahrungsmittel nur noch zehn Prozent der Haushaltseinkommen ausgegeben werden (noch 1970 waren es 19 Prozent, 1950 fast 50 Prozent).
Was Landwirte leisten
Was Landwirte leisten, wissen viele Menschen überhaupt nicht mehr. Und was man nicht wertschätzt, wirft man leichter weg. Inwieweit die Verschwendung in westlichen Industrienationen den Hunger in der Welt beeinflusst, lässt sich zwar nicht in Zahlen fassen, aber Brot für die Welt und die Welthungerhilfe verweisen auf Anbauflächen in der südlichen Hemisphäre, auf denen produziert wird, was dann im Müll reicher Länder landet. Die Überproduktion erhöht die Nachfrage nach Rohstoffen. Den Preis, teurere Grundnahrungsmittel, zahlen ärmere Länder. Hierzulande unbeliebte Reste der Fleischproduktion wie zum Beispiel Innereien gehen in den Export an Dritte-Welt-Länder – zu Lasten der regionalen Märkte dort.
"Die Politik ist gefordert"
"Natürlich ist besonders die Politik gefordert", sagt Stig Tanzmann von Brot für die Welt; er beobachtet, dass „das Bewusstsein der Menschen ein wenig abflacht“, solange es in erster Linie um das individuelle Verhalten geht, sie könnten sich allein gelassen fühlen – und resignieren. Johanna Wiglinghoff teilt diese Bedenken, sie wünscht sich ein politisches Handeln, das über Appelle an die Verbraucher hinausgeht.
Die Bundesregierung hat sich 2015 verpflichtet, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren, "passiert ist seither wenig", stellt die Deutsche Umwelthilfe fest. In Frankreich gilt seit Februar 2016 immerhin zu einem Teilaspekt ein Gesetz, es verpflichtet Märkte mit einer Ladenfläche von mehr als 400 Quadratmetern, unverkaufte Lebensmittel zu spenden, Verstöße dagegen werden mit Geldstrafen von bis zu 3750 Euro sanktioniert. Italien droht seit 2016 nicht mit Strafen, sondern setzt auf Anreize durch Steuererleichterungen bei Lebensmittelspenden; die Bundesregierung teilte 2018 mit, sie sehe in dieser Frage "keine Notwendigkeit für eine gesetzliche Regelung".
Hoffnung auf die Schulen
Gemeinsam mit Foodsharing fordert die Deutsche Umwelthilfe eine exakte Erfassung der Verluste in der Wertschöpfungskette, verbindliche Zielvorgaben und notfalls Sanktionen, außerdem mehr Rechtssicherheit bei der Lebensmittelrettung und den nachhaltigen Umgang mit Lebensmitteln als Thema auch in den Lehrplänen der Schulen.
"Und es ist tatsächlich gar nicht so schwer, Verschwendung zu vermeiden, wenn man lernt, wie das geht", sagt Rebeka Kramer. Sie ist beim Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Fürth zuständig für die Bildungsarbeit mit Familien, Schulen und Kindergärten. Es geht um vermeintlich einfache Dinge: Richtig einkaufen, gern regional und saisonal, richtig lagern, Reste verwerten – und prüfen, ob Nahrungsmittel nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatum noch gut sind. Die allermeisten sind es, sogar noch lange.
Das Amt für Landwirtschaft hilft
Das Haus ist engagiert und bestens ausgestattet, sogar mit einer Imkerei. Die Kurse sind gut besucht, "die Leute freuen sich, etwas zu lernen", sagt Rebeka Kramer. Aber ein noch stärkeres Bewusstsein für den Umgang mit Lebensmitteln wünscht sich auch sie. "So richtig fest angekommen", sagt Rebeka Kramer, sei das noch nicht – erstaunlicherweise.
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