Vom Handlesen bis zur Statistik
26.4.2015, 17:34 UhrDas Reich der Mitte gab Reisenden aus dem Westen schon immer Rätsel auf. Heute erscheint es Besuchern als Wirtschaftsgigant mit modernster Technologie. Die kommunistischen Ideale sind längst auf der Deponie der Geschichte verschwunden, die Menschen orientieren sich weithin am westlichen Lebensstil.
Dabei feiern Traditionen fröhliche Urständ, die aus rationaler Perspektive „okkult“ erscheinen: „Die Befragung von Horoskopen oder Interpretationen nach dem Buch der Wandlungen mit 64 Hexagrammen im Kreis (I Ging/Yijing) sind weit verbreitet“, erklärt Professor Michael Lackner, Inhaber des Lehrstuhls für Sinologie an der Uni Erlangen-Nürnberg.
Der Zusammenprall von „alt“ und „neu“ spielt sich dabei nicht nur innerhalb Chinas ab, sondern spiegelt sich in der Kulturbegegnung von Ost und West. Um all dem auf den Grund zu gehen, entwickelte Lackner mit Kollegen ein internationales, epochen- und kulturübergreifendes Forschungskolleg, in dem auch das europäische Mittelalter einen Schwerpunkt bildet. Denn zu Astrologie – wie zu Religion – hatten die Menschen auch im Westen vor der Aufklärung ein entspannteres Verhältnis als heute.
Als eines von zehn vom Bundesbildungsministerium besonders geförderten Geisteswissenschaftlichen Zentren läuft das Erlanger Projekt daher unter dem Titel „Schicksal, Freiheit und Prognose“ – mit Gastwissenschaftlern aus aller Welt, die reihum jeweils einige Monate in Erlangen zu Besuch sind. Forschung betreiben sie dabei – neben ihren individuellen Vorhaben – vor allem im direkten Austausch.
Die Suche nach Indizien, ob ein Vorhaben ge- oder misslingt, ist in China im privaten wie im geschäftlichen Bereich verbreitet: Werde ich die Prüfung bestehen? Bringt mir eine Investition Erfolg oder den Ruin? Und natürlich: Soll ich tatsächlich diese Frau oder diesen Mann heiraten? „Verbreitet ist das Werfen von Losen, die kleine Stäbchen enthalten. Wenn sie aufplatzen, soll die Lage der Stäbchen bestimmte Deutungen zulassen“, so Lackner.
Die Grenze zur asiatischen Weisheit ist fließend – und gerade das fasziniert auch viele Menschen im Westen. Etwa, wie Eingeweihte der tibetischen Bön-Religion Botschaften aus komplizierten Mustern von Kordeln und Knoten entnehmen.
Unter der kommunistischen Diktatur in China war all das als rückständiger Aberglauben verpönt und streng tabuisiert. Dabei darf angenommen werden, dass sich hinter streng verschlossenen Türen sogar Parteikader derartigen Praktiken und Kulten hingaben und heute wieder hingeben. Welch enorme Bedeutung zahllose Menschen den Tierkreiszeichen und den ihr zugeordneten Kräften und Werten beimessen, zeigte sich erst vor wenigen Wochen: Kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest soll die Zahl der vorzeitigen Geburten per Kaiserschnitt in die Höhe geschnellt sein. Offenkundig wollten viele Eltern sicherstellen, dass ihr Nachwuchs noch vor dem „Jahr der Ziege“ das Licht der Welt erblickt, gilt es doch als weniger erfolgsträchtig als das inzwischen abgelaufene im Zeichen des Pferdes.
In Taiwan nutzt – Erhebungen zufolge – jeder vierte mindestens einmal im Leben astrologisch orientierte Techniken. Dabei beteuern die meisten, „nur ein wenig“ daran zu glauben. Doch offenkundig sind Neugier und Hoffnung auf die Lösung drängender Lebensfragen stärker.
Übrigens besteht kein Anlass, diese Phänomene milde zu belächeln. Denn auch hierzulande zeige fast ein Fünftel der Bevölkerung eine Aufgeschlossenheit dafür, ermittelte vor ein paar Jahren das Marplan-Institut.
Mit dem bloßen Wahrnehmen und Registrieren der Vielfalt von Wahrsage- und Beschwörungstechniken (Divination) ist es aus wissenschaftlicher Sicht freilich nicht getan. Vor allem zweierlei gilt es noch herauszufinden: Unter welchen Umständen und in welchem Umfang beeinflusst das Losewerfen und die Horoskop-Deutung tatsächlich das Verhalten der Betroffen? Und: Warum hat jene geistige Welt sowohl die totalitäre Ideologie der Kommunistischen Partei überlebt wie die Turbo-Modernisierung und den neuen Kapitalismus? Umgekehrt fällt, quasi nebenbei, durch die chinesische wie die mittelalterliche Brille auch ein kritischer Blick auf die Prognosepraktiken unserer Zivilisation. „Unser Konzept haben wir noch vor dem Zusammenbruch der Lehman Brothers-Bank entwickelt“, merkt Lackner mit ironischem Augenzwinkern an. Die davon ausgelöste Erschütterung der Weltwirtschaft hatte kaum einer der vielen Wirtschaftsweisen „auf dem Schirm“.
Wie frei ist der Mensch?
Dass es ums Eingemachte unserer Existenz geht, lässt das Gegenstück zu den Schicksalsvorstellungen erkennen: Wie frei ist der Mensch – wenn das Leben doch von höheren Mächten beeinflusst wird? Und wie wird er mit der existenziellen Unsicherheit fertig?
Dabei lassen sich, so Lackner, zwei Grundtypen unterscheiden: Auf der einen Seite Prophetien und Inspirationen, wie sie auch in Religionen eine große Rolle spielen oder sich in Volksweisheiten artikulieren („Kindermund tut Wahrheit kund“), auf der anderen Seite Verfahren, die auf Zahlen und Rechenoperationen basieren und mit Kosmologie und Astrologie gekoppelt sind.
„Letztlich geht es für alle Beteiligten um einen schärferen Blick auf die jeweils eigene Kultur und ein besseres Verständnis der anderen“, unterstreicht Lackner.
Und im Kontrast wird deutlich: Unmengen von Daten und ausgeklügelte Statistikmodelle, wie sie die westliche Welt gerne für Vorhersagen nutzt, ergeben zwar interessante Wahrscheinlichkeitswerte. Aber keine Antworten auf die Frage, ob das Schicksal es gut mit uns meint – und was wir dafür tun sollten.
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