Gendefekt
Die vierjährige Marisol aus Pleinfeld hat das seltene Syngap-Syndrom
31.08.2021, 06:12 Uhr
"Unser Ziel ist es, dass die Eltern und Ärzte hellhörig werden. Dass Diagnosen schneller gestellt werden können." Dabei ging es bei Familie Gerner aus Pleinfeld schon vergleichsweise schnell mit der Diagnose. Etwa zwei Jahre nach der Geburts ihrer Tochter hatten sie Gewissheit: Marisol hat das SYNGAP1-Syndrom. Es gibt betroffene Familien, deren Kinder erst im Schulkind- oder gar Teenager-Alter endlich die Diagnose bekamen. Dennoch sind zwei Jahre eine lange Zeit, in der Marisols Eltern erst völlig ahnungslos, und dann zunehmend verzweifelt waren.
Als Micaela und Peter Gerner mit Marisol ihr drittes Kind erwarteten, war die Freude groß. "Die Schwangerschaft war zwar schwer, aber nicht beunruhigend", erzählt die heute 38-Jährige Mutter. Spontangeburt, ein gesundes Kind, alle ersten Untersuchungen absolut unauffällig. Marisol schien ein gesundes Mädchen zu sein. Dass sie schon als Baby unruhig war und viel geweint hat, fanden Micaela und Peter Gerner nicht beunruhigend: Ist halt so, nicht jedes Kind ist gleich.
Marisol entwickelte sich langsamer
Doch nach ein paar Monaten merkten die Eltern, dass Marisols Entwicklung anders verlief als bei ihren beiden älteren Brüdern José-Luis und Miguel. "Sie tat sich mit der Motorik schwer, konnte sich nicht alleine umdrehen, nicht krabbeln, und auch nicht sitzen", erinnert sich die Mutter. Auch bei der Umstellung auf Breifütterung gab es Probleme: Das Mädchen wollte einfach nicht essen.
Als Marisol neun Monate alt war, ahnten die Gerners langsam, dass mehr dahinter stecken muss. "Sie ist in ihrer Entwicklung einfach nicht weiter gekommen, wurde ja auch immer dünner, weil sie nicht gegessen hat", berichtet Papa Peter. "Irgendwas stimmt nicht", sagte Micaela Gerner dann zum Kinderarzt.
Doch eine Ursache konnte er nicht ausmachen. Abwarten, das wird schon. Ist halt eine Entwicklungsverzögerung, das kann man noch aufholen – solche und ähnliche Dinge habe der Arzt gesagt.
Marisol bekam Logopädie und Physiotherapie. Letztere zeigte bald Erfolge, mit einem Jahr konnte das Mädchen endlich sitzen, es folgte das Krabbeln, und mit anderthalb Jahren konnte sie endlich auch laufen. Doch was den Eltern große Sorgen machte: Marisol sprach nicht, und sie aß auch nicht. "Sie war ganz still, brabbelte nicht, gab keinen Laut von sich", erinnert sich die Mutter. Und Nahrung verschmähte sie.
Lange dachten die Eltern: "Das wird schon"
Die Gerners suchten Hilfe im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) in Augsburg und Neuburg. Marisol bekam hochkalorische Nahrung über die Flasche, wurde organisch durchgecheckt, Blutuntersuchungen, Ultraschall, Computertomografie. Alles ohne Befund, erzählt Mama Micaela. "Und wir waren natürlich wieder erleichtert, dass sie nichts gefunden haben, und dachten: das wird schon."
Das drängendste Problem mit Marisol war das Essen. Während andere Kinder fröhlich mit Nahrung herummatschten, rührte Marisol nichts an. Im Februar 2019 begann eine fünfwöchige, stationäre Essenstherapie in Augsburg. Die dortige Logopädin war die erste, die kein Blatt vor den Mund nahm: Hier stimmt etwas ganz gewaltig nicht, stellte sie fest.
"Da sind wir das erste Mal in ein Loch gefallen", erinnert sich Peter Gerner. Die Familie nahm Kontakt zu einem Humangenetik-Institut in München auf und ließ Marisols Erbgut analysieren. "Und nach mehreren Monaten Wartezeit kam dann der Anruf aus München: Wir haben etwas gefunden." Die Diagnose: Marisol hat das Syngap-Syndrom.
Die Diagnose Syngap war ein Schock
"Wir sind dann heim gefahren und wussten erst mal gar nicht weiter", erinnern sich die Eltern. Marisols Ärzte konnten mit dem Begriff wenig anfangen, die Informationen im Internet waren dürftig und teils niederschmetternd. Manche Kinder mit Syngap sind schwerstbehinderte Pflegefälle. "Das Syndrom wirkt sich eben bei jedem anders aus", wissen die Gerners heute. Doch vor zwei Jahren war die Diagnose ein Schock.
Doch im Internet fanden Micaela und Peter Gerner auch andere betroffene Familien, konnten sich endlich austauschen. Sie lernten, die Besonderheiten in Marisols Verhalten richtig zu deuten. So leidet das Mädchen etwa an Ess-Epilepsie: Die Kaubewegungen lösen bei ihr einen epilepitschen Anfall aus, der auf den ersten Blick wirkt, als würde Marisol einfach nur kurz die Augen schließen und einnicken.
Heute sind Mariols Eltern und die Geschwister dankbar für jeden Schritt. "Sie ist mobil und lebenslustig, und sie hat riesen Sprünge gemacht", sagt Peter Gerner. Wie zum Beweis klettert das Mädchen auf seinen Schoß und verlangt nach der Kaffeetasse. Mit Genuss trinkt sie die letzten Tropfen Kaffee aus, die Eltern lachen. Marisol hat mittlerweile klare Vorlieben beim Essen, am liebsten mag sie Kaffee, Oliven, und Aioli – eine echte Halbspanierin eben.
Marisol macht tolle Fortschritte
Besonders beim Sprechen macht die mittlerweile Vierjährige enorme Fortschritte. Knapp 100 Wörter kann sie sagen, damit ist sie eines der fittesten Syngap-Kinder. "Das war aber auch harte logopädische Arbeit", wirft Micaela Gerner ein. Mehrmals die Woche fährt sie mit ihrer Tochter nach Augsburg für verschiedene Therapien.

Zur Unterstützung der Kommunikation in der Familie hat Marisol nun auch einen Sprachcomputer. Mit viel Liebe und Mühe haben ihre Eltern Alltagsgegenstände, Spielsachen, Freunde und Familienmitglieder abfotografiert und digitalisiert, Marisols fünfjährige Cousine hat die Wörter eingesprochen. Nun kann Marisol mit Hilfe des Touchscreens Wörter lernen und ausdrücken, was sie möchte.
Hilfe bekommt die Familie von etlichen Seiten. Die Kinderschicksale Mittelfranken ermöglichen eine Reittherapie für die Vierjährige, die ihr viel Freude bereitet. Die befreundete Familie Bilek aus Pleinfeld organisierte am vergangenen Wochenende ein Benefizkonzert für Marisol und die Syngap Elternhilfe, durch persönliche Kontakte konnten der Musik-Comedian Atze Bauer und die Wendengugge aus Wendelstein gewonnen werden.
Benefizkonzert in Pleinfeld
"Der Bürgermeister und die Gemeinde Pleinfeld haben uns auch sofort unterstützt", freut sich Tanja Bilek. Mehr als 1100 Euro sind im Rahmen des Benefizkonzerts zusammen gekommen. Bei der Syngap-Elternhilfe geht das Geld zu gleichen Teilen in die Forschung, Aufklärung und in besondere Aktionen und Treffen für die betroffenen Familien.
Die Gerners hoffen, dass sie durch Marisols Geschichte mehr Aufmerksamkeit auf das Syngap-Syndrom lenken können, mehr Fälle diagnostiziert werden und auch die Forschung vorangetrieben wird. "Je mehr wir sind, umso dringender wird es, Erkenntnisse zu gewinnen", sind sie sicher. Solange tauschen sich mit anderen Betroffenen aus, halten Besondernheiten und Gemeinsamkeiten fest und leisten Aufklärungsarbeit. "Wir als Eltern machen momentan auch einen Großteil der Forschung."

Zum Thema: Das Syngap-Syndrom
Der Gendefekt Syngap-Syndrom wurde erst 2009 von einem kanadischen Forscher entdeckt. Er fand die zugrundeliegende Mutation im Syngap1-Gen, das sich auf dem kurzen Arm des sechsten Chromosoms befindet. Zur Mutation kommt es nach derzeitigem Forschungsstand rein zufällig, also ohne äußere Faktoren oder genetische Veranlagung.
In Deutschland ist der Gendefekt bei rund 70 Menschen diagnostiziert, weltweit sind es gerade einmal 760 – die Dunkelziffer wird jedoch auf etwa eine Million geschätzt.
Organisch sind Syngap-Betroffene vollkommen gesund, eine eindeutige Diagnose gibt es daher nur über eine genetische Analyse. Das Syngap1-Gen ist dafür zuständig, das Protein SynGAP zu produzieren. Wird das Protein aufgrund der Genmutation nicht in ausreichender Menge hergestellt, kommt es zum Syngap-Syndrom.
Betroffene sind meist entwicklungsverzögert in unterschiedlich schweren Ausprägungen, sowohl körperlich als auch sprachlich und mental. Syngap-Kinder brauchen daher viel Unterstützung. In der Regel werden sie als geistig behindert eingestuft. Zwei von drei Kindern haben epileptische Anfälle, einige leiden an Verstopfung und Schlafstörungen. Etwa die Hälfte der Syngap-Diagnostizierten sind zusätzlich Autisten.
(Quelle: Syngap Elternhilfe Deutschland)
Weitere Informationen gibt es beim Verein Syngap Elternhilfe unter www.syngap.de. Ein Spendenkonto wird derzeit eingerichtet.