Ein Marathon mit 18.337 Stufen
02.10.2010, 17:43 Uhr
„Für mich war es bislang der schönste, zugleich aber auch der schwerste Lauf“, erzählt Andre Qualmann. Zurück aus dem Reich der Mitte kann er schon wieder lachen und freut sich, dass er heil zu Hause ist. Beim Rennen selbst durchlitt er einige Zweifel und musste sich ganz schön durchkämpfen, denn der Marathon auf der Chinesischen Mauer ist alles andere als ein kulturhistorischer Spaziergang.
Ganz im Gegenteil: Hitze mit deutlich über 30 Grad setzte den Teilnehmern gewaltig zu – und vor allem: Treppen, Treppen, Treppen! 18337 Stufen waren es exakt, die Qualmann und die anderen Läufer in dem internationalen Starterfeld im Mauerbereich zwischen Jinshanling und Simatai (120 Kilometer nördlich von Peking) bewältigen mussten. Dabei sind die Treppen unterschiedlich hoch, von sieben bis 65 Zentimeter, was es noch zusätzlich erschwert, einen Laufrhythmus zu finden. Die Strecke war y-förmig, wobei jeder Arm jeweils viermal abgelaufen werden musste. Mittendrin: mehrere Wachtürme, die es zu durchqueren galt – und das zum Teil über eine schmale Leiter durchs Fenster.
Nach den ersten zehn Kilometern sagte der Körper des Raitenbuchers „Eine Runde reicht auch“ – schließlich bestand auch die Möglichkeit, den Wettbewerb als 10-Kilometer-Lauf oder Halbmarathon zu absolvieren. Doch Qualmann quälte sich durch. Sein Ehrgeiz war größer. „Ich wollte diesen Marathon unbedingt zu Ende laufen“, sagt er rückblickend. Und er schaffte es auch: Nach 4:53 Stunden kam er völlig ausgelaugt, aber doch überglücklich im Ziel an. Seine Zeit bescherte ihm den zwölften Platz. Das Teilnehmerfeld war aus organisatorischen Gründen auf 100 begrenzt.

Aufmerksam geworden war Andre Qualmann durch einen Bekannten auf den außergewöhnlichen Wettbewerb. Erst konnte er es gar nicht glauben, dass es überhaupt einen Marathon auf der Chinesischen Mauer gibt, dann kam der 38-jährige Familienvater (drei Kinder) jedoch nicht mehr von dem Gedanken los. Seine Frau Jeannette fragte ihn im ersten Moment, ob er denn schon die Midlife-Crisis habe, war dann aber auch dabei und begleitete ihren Mann nach China. Beide hängten nach dem Rennen noch ein paar Tage Urlaub dran.
Training im Smog von Peking
Nach der Ankunft in Peking hatten Andre Qualmann und andere deutsche Läufer, die den Mauer-Marathon über den Extremsportler Wichart Hölscher gebucht hatten, erst einmal einen Trainingslauf unternommen. Angesichts des extremen Smogs brannten ihnen schon nach fünf Kilometern derart die Lungen, dass sie meinten, 50 Kilometer gelaufen zu sein. Dennoch machten sie die 10.000 Meter voll. Nach einem weiteren Trainingslauf ging es dann am fünften Reisetag mit dem Bus in Richtung Mauer. Dort blieb noch genügend Zeit, um die Aussicht zu genießen, doch zugleich nahm die Anspannung zu.
Nach dem Startschuss machten schon die ersten 500 Meter an Treppen hinauf zur zentralen Versorgungsstation klar, was auf alle Ausdauersportler zukommen würde. Der Kurs war aufgrund der vielen Treppen nach dem Reglement für besondere Strecken vermessen. Die Stufen wurden mitgezählt, sodass letztlich die Marathondistanz von 42,195 Kilometern herauskam. Im Ziel konnte Qualmann stolz sein, diesen einzigen Marathon, der komplett auf der Chinesischen Mauer verläuft, geschafft zu haben (es gibt auch noch Marathon-Veranstaltungen, die nur zum Teil über dieses „Weltwunder der Neuzeit“ verlaufen).
Für Andre Qualmann, der zuvor in heimischen Gefilden schon etliche Wettbewerbe bestritten hatte, steht fest, dass er auch in Zukunft wieder besondere Strecken erlaufen und erleben will. Ein Wüstenmarathon würde ihn beispielsweise reizen. Auch beruflich schweift er als Kraftfahrer gerne in die Ferne – vorwiegend nach Ita- lien. Nicht selten nutzt er dabei eine der vorgeschriebenen Lenkzeit-Pausen, um am Brenner schnell den Berg hochzurennen.