Über 1000 Stunden zwischen Leben und Tod - ein Corona-Opfer erzählt
27.8.2020, 05:57 Uhr64 Stufen runter zum Briefkasten, 64 Stufen wieder rauf – das war in den vergangenen Wochen der ganz persönliche Mount Everest des 71-Jährigen. Anfangs musste er bei seinen täglichen Trainingseinheiten mehrmals Pause machen, um wieder zu Atem zu kommen. Auf halbem Weg öffnete er das Fenster im Treppenhaus, damit seine angeschlagene Lunge mehr frische Luft bekommt.
"Aber es wurde jeden Tag ein bisschen besser", erinnert sich Friedel. Erst 40, dann 50 Stufen – und inzwischen geht der Weg zurück in die Wohnung meist wieder in einem Zug. Einer von vielen kleinen Etappensiegen des gebürtigen Weißenburgers auf dem Weg zurück in ein normales Leben, nachdem er dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen ist.
Irgendwann im März hatten sich Wolfgang Friedel und seine Lebensgefährtin Marion Rogowski mit dem Coronavirus infiziert. Wann genau, wo und durch wen, das wissen sie trotz intensiver Recherchen des Gesundheitsamtes bis heute nicht.
Freundin rief den Notarzt
Mitte März hatten beide erste Symptome. "Erhöhte Temperatur, Abgeschlagenheit, Schwindelgefühle – wir hatten zuerst an einen ganz normalen grippalen Infekt gedacht", erzählt Marion Rogowski. Den Erreger Sars-CoV-2 hatten sie zu diesem Zeitpunkt nicht in Verdacht. In Nürnberg und Umgebung waren da zwar schon einige Infektionsfälle bekannt geworden – "aber dass es einen selbst treffen kann, das war zu diesem Zeitpunkt noch ziemlich weit weg".
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Vor allem Wolfgang Friedel ging es jedoch immer schlechter, Ende März konnte er plötzlich nicht mehr vom Sofa aufstehen. Nicht mal mit Hilfe seiner Freundin, die den Notarzt rief. Sanitäter in Ganzkörper-Schutzanzügen trugen ihn die Treppe hinunter und fuhren ihn ins Martha-Maria-Krankenhaus. "Die Fahrt dahin habe ich noch mitbekommen, doch ab dem Zeitpunkt, als der Rettungswagen in die Einfahrt zur Notaufnahme abbog, weiß ich nichts mehr", erzählt der 71-Jährige.
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Knapp vier Wochen später kam Friedel wieder zu sich – in der Intensivstation des Uniklinikums Erlangen, in die er in der Zwischenzeit verlegt worden war. Zahlreiche Schläuche hingen an seinem Körper, denn unter anderem war er in der Zeit seines künstlichen Komas invasiv – also über einen direkten Zugang zur Luftröhre – beatmet worden.
Drei Herzstillstände erlitten
Dreimal hatte er in dieser Zeit einen Herzstillstand erlitten und musste reanimiert werden, dazu kamen ein Schlaganfall, eine Lungenentzündung und schließlich auch noch Nierenversagen, so dass er an ein Dialysegerät angeschlossen werden musste.
Er habe halt bei allem "Hier" geschrien, scherzt Friedel, der zum Glück Zeit seines Lebens Sport getrieben hat und bis zu seiner Covid-19-Erkrankung eine sehr gute Kondition und keinerlei Vorerkrankungen hatte. "Das hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet", sagt der 71-Jährige, der viele Jahre lang als Fußballer, zeitweise sogar in der Landesliga, aktiv war. Außerdem spielte er Tennis und Prellball, kegelte und war bis zu seiner Infektion als Golflehrer aktiv.
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Auch Marion Rogowski, die ihren Freund einst auf dem Golfplatz kennengelernt hatte, machte das Coronavirus schwer zu schaffen, etwa mit Hustenanfällen, Kreislaufschwäche und einem brennenden Gefühl in der Lunge ("ich habe jeden Atemzug gespürt"). Aber sie war bei Weitem nicht so schwer betroffen wie ihr 18 Jahre älterer Lebensgefährte, der über 1000 Stunden lang künstlich beatmet werden musste.
Lebensgefährtin saß zuhause in Quarantäne
Während Wolfgang Friedel im Uniklinikum um sein Leben kämpfte, saß sie in ihrer Wohnung in Nürnberg in Quarantäne. "Vier Wochen lang bin ich nicht vor die Tür gekommen, aber zum Glück haben wir ganz wunderbare Nachbarn, die mich mit allem versorgt haben", erzählt sie. Jeden Tag kochte eine Nachbarsfamilie für die 53-Jährige mit und stellte ihr das Essen in Thermobehältern sowie die regelmäßigen Einkäufe vor die Tür.
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Die soziale Isolation sei schon belastend gewesen, bilanziert die Nürnbergerin. Dazu die Angst um ihren Freund, über dessen Zustand sie zunächst nur über Umwege – etwa über Wolfgang Friedels Schwester oder seine drei Töchter – auf dem Laufenden gehalten wurde. Erst gegen Ende seines siebenwöchigen Aufenthalts im Uniklinikum Erlangen durfte sie ihn ein paarmal dort besuchen, immer in einem Vollschutzanzug mit Maske.
In einer speziellen Reha-Klinik im sächsischen Kreischa musste Wolfgang Friedel dann unter anderem das selbständige Atmen wieder lernen. Weaning nennen Fachleute diese Phase, in der die Entwöhnung eines beatmeten Patienten von einer maschinellen Atemunterstützung stattfindet. Die Rückkehr in ein normales Leben war mühsam: "Ich konnte nur noch eines gut, nämlich liegen. Alles andere – Sitzen, Gehen, Essen, Sprechen – musste ich mir erst wieder aneignen", erzählt der 71-Jährige, der jedoch nie an seiner Genesung gezweifelt hat.
23 Kilo abgenommen
Auch seiner Lebensgefährtin gelang die Rückkehr zurück in den Alltag nur Schritt für Schritt. Zunächst arbeitete die Vertriebsassistentin drei Stunden am Tag, dann fünf, und erst seit zwei Wochen ist sie wieder Vollzeit im Büro. Ihr Freund geht derzeit mehrmals pro Woche zur Physiotherapie, absolviert ein Sprachtraining bei einer Logopädin und bemüht sich, wieder Körpermasse aufzubauen. 23 Kilo hatte er während seiner Krankheit verloren, weshalb ihm unter anderem längeres Sitzen schwer fällt.
Trotz der schlimmen Zeit, die hinter ihnen liegt, hadern die beiden nicht mit ihrem Schicksal. Sich mit "hätte, könnte, sollte" zu beschäftigen, bringe doch nichts, meint Marion Rogowski. "Wir schauen nach vorne und machen das Beste aus der Situation."
Kraft schöpfte das Paar auch aus der Anteilnahme der Verwandten und Freunde. Dutzende von Anrufen und Genesungskarten habe man bekommen, unter anderem zahlreiche Golffreunde hätten sich immer wieder gemeldet. Bis Marion Rogowskis größter Traum nach diesen kräftezehrenden Monaten – eine gemeinsame Golfrunde mit ihrem Lebengefährten – in Erfüllung geht, wird aber wohl noch eine ganze Weile vergehen.