"Freiheit spüren": Ein blinder Franke bereist die ganze Welt

28.10.2019, 15:53 Uhr
Das ist der Moment, der die meisten Glückshormone ausschüttet, der Moment, in dem sich Johann Mühlbauer wirklich frei und unabhängig fühlt: Wenn ihn plötzlich die Welle davonträgt.

© privat Das ist der Moment, der die meisten Glückshormone ausschüttet, der Moment, in dem sich Johann Mühlbauer wirklich frei und unabhängig fühlt: Wenn ihn plötzlich die Welle davonträgt.

Johann, bist du eigentlich schon immer blind gewesen?

Johann Mühlbauer: Mit eineinhalb Jahren hatte ich hinter dem linken Auge einen Tumor, da mussten sie das Auge entfernen und ein Glasauge einsetzen. Ein Jahr später dann auf dem rechten Auge dasselbe.

Er wird ganz ruhig, sagt eine Weile nichts, zündet sich eine selbstgedrehte Zigarette an und atmet tief durch.

Du hast also mal gesehen, erinnerst du dich noch daran?

1979 wird Johann Mühlbauer geboren, seine Eltern haben einen Bauernhof in der Oberpfalz. Nach etwas über zwei Jahren ist er völlig blind, mit sechs Jahren kommt er auf die Blindenschule nach Nürnberg-Langwasser.

1979 wird Johann Mühlbauer geboren, seine Eltern haben einen Bauernhof in der Oberpfalz. Nach etwas über zwei Jahren ist er völlig blind, mit sechs Jahren kommt er auf die Blindenschule nach Nürnberg-Langwasser. © privat

Mühlbauer: Nein, gar nicht. Aber zweieinhalb Jahre ist ein gutes Alter, um blind zu werden. Ich konnte nämlich in einer der wichtigsten Phasen des Lebens sehen: als ich Krabbeln, Stehen und Laufen gelernt habe. Das hat Auswirkungen bis heute, deshalb bewege ich mich sehr sicher und treibe auch viel Sport. Ein Freund von mir wurde schon blind geboren, er bewegt sich viel unsicherer.

Trotzdem kannst du als Blinder vermutlich nicht jeden Sport machen.

Mühlbauer: Sollte man meinen, aber wenn du wirklich willst, kannst du so viel. Ich bin schon mit dem Tandem durch Mallorca geradelt, sieben Tage mit Freunden und dem Kanu durch die Wildnis Norwegens gepaddelt, ich war ein paar Monate mit meiner damaligen Freundin in Australien und bin dort viel geschwommen. Ich wandere, klettere und mache Yoga. Da muss aber immer jemand dabei sein, der mich zumindest führt und mir Anweisungen für den nächsten Schritt gibt.

Johann Mühlbauer wirkt plötzlich ganz aufgeregt, lehnt sich in seinem Stuhl weit nach vorne und strahlt übers ganze Gesicht.

Mühlbauer: Aber es gibt einen Sport, da kommt mit etwas Glück dieser eine Moment, da bin ich für zehn, manchmal sogar 40 Sekunden ein anderer Mensch, da bin ich wirklich frei, da erlebe ich absolutes Glück: beim Surfen. Wenn ich rauspaddle und mir mein Begleiter das Signal gibt, dass gleich die Welle bricht, wenn ich dann das Rauschen höre, aufs Brett springe und sie mich mitnimmt, die Welle. Dann überschreite ich Grenzen, niemand ist mehr an meiner Seite, der mir helfen kann. Für diese Momente fahre ich immer wieder nach Portugal zum Surfen. Die Blindheit kann ich nicht bekämpfen, aber die Angst vor Herausforderungen kann ich bekämpfen.

Wie so viele andere suchst also auch du den Kick in der Fremde. War das schon immer so?

Mühlbauer: Überhaupt nicht. Ich stamme aus dem Kaff Ried bei Gleißenberg in der hintersten Oberpfalz, ganz in der Nähe geht’s über die Grenze nach Tschechien. Meine Eltern hatten einen Bauernhof, sie sind nie in den Urlaub gefahren. Ich bin mit sechs nach Nürnberg auf die Blindenschule in Langwasser gekommen, meine Ferien habe ich bei meinen Eltern am Hof verbracht. Wir sind höchstens mal für ein paar Tage zur Verwandtschaft nach Köln gefahren, das war’s.

Und dann hat es plötzlich Klick gemacht?

Mühlbauer: Das Schlüsselerlebnis war vor 19 Jahren ein Flug nach London, wo man mich noch aus dem Flieger begleitet und dann im Airport Heathrow auf einer Bank abgesetzt hat. Da saß ich ganz alleine und war ein wenig hoffnungslos. Ich war noch nicht sicher, wie ich überhaupt aus dem Flughafen rauskomme und wie ich nach Oxford kommen sollte, wo ich auf eine Sprachschule wollte. Plötzlich tätschelten mich mehrere Hände an der Schulter und nette Leute halfen mir ab da immer weiter. So geht’s mir ständig. Und dieses gute Gefühl brauche ich, es ist fast wie eine Sucht.

Wenn man so will, ist das eine gute Seite an der Blindheit?

Bei einer mehrmonatigen Reise durch Australien fraß ihm dieses Känguru aus der Hand, streicheln ließ es sich allerdings nicht.

Bei einer mehrmonatigen Reise durch Australien fraß ihm dieses Känguru aus der Hand, streicheln ließ es sich allerdings nicht. © privat

Mühlbauer: Sehen die Leute, dass ich nichts sehe, sprechen sie mich an, zeigen Respekt, wir quatschen ein bisschen und manchmal sind daraus Freundschaften entstanden. Ich komme viel leichter mit Menschen in Kontakt als ihr Sehenden. Das zeigt mir: Es geht! Ich erweitere meinen Horizont, bestätige mir, dass ich das schaffe. Seit ich Micky habe, bin ich noch flexibler und habe immer jemanden dabei, wenn ich durch fremde Städte streife oder im Meer schwimmen gehe.

Darf Micky überall mit?

Mühlbauer: Ja, eigentlich schon, das lohnt sich aber nur bei längeren Reisen ab einer Woche, denn er muss sich immer erst ein paar Tage an die neue Umgebung gewöhnen. Zum Glück dürfen Blinde ihre Hunde kostenlos mit in die Flugzeugkabine nehmen, er rollt sich dann zu meinen Füßen ein und ist ganz relaxt. Eine schaukelige Fahrt etwa in einem alten VW-Bus durchs Gebirge wäre ihm da eher suspekt.

Für die meisten Menschen sind die Augen das wichtigste Sinnesorgan, gerade auf Reisen durch die "bunte Welt". Manche fragen dich bestimmt, ob sich das Reisen überhaupt lohnt für jemanden, der eh nichts sieht.

Mühlbauer: Ich ernte tatsächlich manchmal völliges Unverständnis. Da denke ich mir: Was seid ihr arm! Es gibt doch so viel mehr Sinne. Auch bei mir entstehen Bilder im Kopf, wahrscheinlich ganz andere. Alleine die anderen Geräusche, die Sprache der Menschen, die Gerüche! Auf Reisen bin ich ein ganz anderer, viel offener. Ich spüre das Klima, die Hitze, den Wind auf der Haut, die Luft riecht anders. Um besonders viel in mich aufzunehmen, laufe ich ganz viel barfuß, ich streichle mit der Hand über den warmen Sand. Für mich ist es ein Erlebnis, die feinen Körner an den Füßen mit ins Bett zu nehmen. Nachts um drei alleine ins Hotel zurückzukommen, sich treiben lassen, das Gefühl von Freiheit spüren. Und einer der wichtigsten Reize ist das Essen mit all den Geschmacksexplosionen auf der Zunge. Viele der Gerichte koche ich daheim dann nach.

Stellst du dir vor dem inneren Auge vor, dass woanders die Menschen auch anders aussehen?

Mühlbauer: Eigentlich bin ich viel zu links, um da zu unterscheiden. Ich bekomme nur übers Erfühlen eine genauere Vorstellung von der Form des Gegenübers, wobei ich mein Gegenüber nicht gleich betatsche, das mache ich nur bei Menschen, die mir nahestehen. Ich denke mir aber oft, dass durch die unterschiedlichen Laute, die den Menschen etwa in Südtirol oder in China aus den Mündern kommen, auch die Münder anders aussehen müssen. Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kontinenten riechen auch anders, das mag an den verschiedenen Gewürzen liegen, die sie essen. Diese Unterschiede nehme ich auch bei meiner Arbeit als Physiotherapeut wahr, und durch den Geruch kann ich manchmal auf die Herkunft schließen, da rieche ich oft die Sonne.

Wie hältst du Kontakt zu deinen Freunden in aller Welt?

"Sehen die Leute, dass ich nichts sehe, sprechen sie mich an, zeigen Respekt, wir quatschen und manchmal sind daraus Freundschaften entstanden." Hier in einem australischen Pub.

"Sehen die Leute, dass ich nichts sehe, sprechen sie mich an, zeigen Respekt, wir quatschen und manchmal sind daraus Freundschaften entstanden." Hier in einem australischen Pub. © privat

Mühlbauer: Eigentlich bin ich ein Technik-Depp, aber auch ich nutze intensiv das Smartphone und schreibe per Whatsapp oder Facebook. Sprachassistenten wie Siri sind bei fast allem eine große Hilfe. Es gibt da ein Tool, das liest mir die Buchstaben vor, die ich auf dem Display angetippt habe, ein anderes liest mir Nachrichten vor. Am PC schreibe ich Nachrichten sogar auf der Tastatur, da habe ich in der fünften Klasse mal einen Kurs belegt.

Ich kann übrigens auch blind auf der Tastatur tippen.

Johann lacht.
Mühlbauer: Siehst du, dann hast du schon viel verstanden.

Deine Reisen werden sicher akribisch vorbereitet.

Mühlbauer: Früher war das nicht nötig, da bin ich auch mal in All-inclusive-Anlagen gereist und musste mich lediglich als Blinder anmelden. Die haben mich dann am Gate abgeholt und nach dem Transfer im Hotelzimmer aufs Bett gesetzt. Das reizt mich nicht mehr, inzwischen habe ich überall genug Freunde, die mir helfen. Ich gehe derzeit am liebsten surfen, da suche ich mir ein Ziel aus, Guadeloupe in der Karibik zum Beispiel. Da gibt’s eine Surfschule, die schreibe ich an und frage, ob sie sich zutrauen, mich zu betreuen. Dann bekomme ich einen Privatlehrer, der mit mir aufs Wasser geht. Wichtig ist, dass alle vorher die Info haben, dass ich blind bin, dann klappt das schon.

Wir machen Fotos auf Reisen, drehen Videos. Was bringst du von den Reisen mit?

Mühlbauer: Erst mal den Eindruck, dass der Fotowahn der Sehenden ihnen den Reiz des schönen Moments kaputtmacht, indem sie ständig nach einem schönen Bild gieren. Sehende sehen oft weniger als ich, ich genieße den Moment viel mehr, weil ich nichts sehe. In Dänemark etwa sitze ich am Meer und spüre seine Weite allein durch die Geräusche und den Wind. Ich muss da zum Glück keinen Sonnenuntergang knipsen. Früher habe ich mal ein Reisetagebuch geführt, das mache ich aber nicht mehr – die meisten Eindrücke bleiben mir eh im Kopf erhalten. Ich nehme mir gerne Gegenstände mit nach Hause, die mich an die Reise erinnern, Sand etwa, Steine oder die CD einer Band, die ich dort gehört habe. Aber auch exotische Gewürze, eine Bongotrommel aus Südafrika und eine Didgeridoo aus Australien. Meistens muss ich gar nicht suchen, die Souvenirs kommen einfach zu mir.

Wo geht es bald hin?

Mühlbauer: Konkret werde ich wieder in Portugal surfen und auf eine Alm zu einer Freundin fahren, die dort als Sennerin arbeitet. Ich möchte auch mal ganz alleine mit dem Zug bis Portugal fahren, da fängt das Abenteuer schon in der U-Bahn zum Flughafen an. Wenn ich das schaffe, gibt mir das so viel Selbstbestätigung wie das Surfen. Die Krone wäre dann eine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln über den Kosovo und Albanien nach Griechenland und mit der Fähre zurück. Wobei ich mir durch die vielen Ortswechsel wahrscheinlich doch zu viel zumute. Mal sehen.

Was rätst du anderen Blinden, die noch zu verzagt sind für eigene Trips?

In Portugal hat er sein größtes Hobby entdeckt – hier mit einem der Surflehrer.

In Portugal hat er sein größtes Hobby entdeckt – hier mit einem der Surflehrer. © privat

Mühlbauer: Es einfach zu probieren, das klappt schon! Womöglich organisiere ich sogar mal Vorträge für Blinde und mache ihnen Mut, auch auf eigene Faust die Welt zu erkunden. Sich nicht immer im eigenen Klüngel zu bewegen, indem sie gezielt Reisen für Blinde buchen, wo sie nur unter Ihresgleichen unterwegs sind. Das erweitert ihren Horizont nämlich kaum und ist genauso wie bei Sehenden, die in den exotischsten Ländern ihr Hotel nicht verlassen.

Micky folgt mir mit Johann am Griff aus dem Café, vor den Stufen trippelt das Tier mit seinen Pfoten und signalisiert ihm so die Sturzgefahr. Als wir vor dem Haus im Freien stehen, verabschieden wir uns herzlich mit einem Armschlag.

Johann steht noch ein wenig herum, tippt eine Nachricht auf seinem Smartphone und macht sich dann gezielt auf den Weg zu einem Freund am anderen Ende der Altstadt.

Hier bekommen Sie Tipps,wenn Sie blind verreisen möchten:
Nicht jeder Blinde muss sich so ins Abenteuer stürzen wie Johann Mühlbauer. Wer auf Reisen Unterstützung möchte, bekommt etwa beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband DBSV oder unter Tel.: 030 2853870 umfangreiche Tipps, die Trips in die Fremde leichter machen.
Außerdem empfiehlt der Verein unter anderem die acht Aura-Pensionen und -Hotels, die den Landesverbänden des DBSV gehören und besonders auf die Bedürfnisse blinder und sehbehinderter Menschen eingehen – Häuser gibt es etwa an der Ostsee, aber auch im Harz oder bei Garmisch-Partenkirchen. Ähnliche Unterkünfte empfiehlt die Organisation auch im Ausland, gelistet werden sie unter anderem bei der Europäischen Blindenorganisation unter www.euroblind.org (derzeit keine Telefonnummer).
Außerdem gibt es laut DBSV Reiseanbieter, die blinden und sehbehinderten Menschen Erlebnisurlaube ohne Begleitpersonen anbieten. Sie vermitteln auch bei Gruppenreisen, die für Sehende angeboten werden, sowie für individuell Reisende eine Reiseassistenz – also jemanden, der an kritischen Punkten hilft.
Die Blindenfreunde bieten ebenfalls Unterkünfte für Blinde und Sehende auf ihrer Homepage oder unter Tel.: 030 8234328. Die Bundesvereinigung Eltern blinder und sehbehinderter Kinder e. V. (BEBSK) listet weitere Organisationen auf, die Blinde bei Reisen unterstützen, darunter die Nummer der Reiseassistenz der Deutschen Bahn: Tel.: 01806 512512. Unter der kann man sich Hilfe etwa an den Bahnsteig bestellen.
Immer mehr Apps unterstützen Blinde unterwegs, der Netzbetreiber Vodafone listet die besten auf. Darunter sind Apps, die erkennen und in Worten beschreiben, was das Gegenüber gerade macht, ob "auf 12 Uhr eine Parkbank" steht, welche Gerichte auf der Speisekarte angeboten werden oder welchen Geldschein man aus dem Geldbeutel ziehen möchte.

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