Nach einem realen Fall

Neu im Kino: "Die Aussprache" ist eine intensive Reflexion über weibliche Selbstbehauptung

epd

11.2.2023, 19:00 Uhr
Kriegsrat in der Scheune, bevor die Männer am nächsten Tag zurückkehren werden: Szene aus dem klugen, meisterhaft inszenierten Drama "Die Aussprache".

© Michael Gibson/Orion Releasing LLC/Universal/dpa Kriegsrat in der Scheune, bevor die Männer am nächsten Tag zurückkehren werden: Szene aus dem klugen, meisterhaft inszenierten Drama "Die Aussprache".

Das von Polley verfasste Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Roman von Miriam Toews, welcher wiederum von realen Ereignissen inspiriert war, die sich im Jahr 2010 zutrugen. Im Mittelpunkt des Films stehen die Frauen und Mädchen einer mennonitischen Kolonie im ländlichen Kanada. Über Jahre hinweg wurden sie von Männern der Gemeinschaft vergewaltigt - nachts, im Schlaf, betäubt mit Beruhigungsmitteln für Kühe.

Wenn die Frauen mit blauen Flecken und blutigen Nachthemden erwachten, erklärten die Männer (nicht nur die Täter) dies zum Werk von Geistern und Dämonen oder sie bezichtigten die Opfer der Einbildung und "weiblicher Wichtigtuerei". Misogynes, religiös verbrämtes Gaslighting. Erst als einer von ihnen erwischt wird, kommt die ganze Wahrheit ans Licht. Um die Täter vor dem Zorn der Frauen zu schützen, bringen die anderen Männer sie in die Stadt, wo die Polizei sie in Haft nimmt.

All dies bildet nur die Vorgeschichte und wird innerhalb weniger Minuten zusammengefasst, in prägnanten Bildern und durch eine weibliche Erzählstimme. Der Großteil des Films spielt sich allerdings in einer Scheune ab, wo die Frauen beraten, was sie tun sollen: vergeben und vergessen, wie es die Männer der Kolonie verlangen? Fortgehen? Oder bleiben und kämpfen? Viel Zeit für eine Entscheidung haben sie nicht, denn am nächsten Tag werden die Männer mitsamt der Täter aus der Stadt zurückkehren.

Genderfragen und toxische Männlichkeit

Aus dieser Situation entwickelt sich eine Diskussion um existenzielle Fragen, wie man sie in dieser Vielschichtigkeit im Kino nur selten erlebt. Es geht um Ethik und Spiritualität, um Genderfragen, toxische Männlichkeit und die Fähigkeit, seinen Peiniger zu lieben. Das zerstörerische Wesen von Macht wird ebenso diskutiert wie die bedeutsamen Unterschiede zwischen "Verlassen" und "Flüchten", zwischen religiös erzwungener und wahrhaftig empfundener Vergebung.

Selbst der herausfordernde Gedanke, dass Vergewaltiger selbst Opfer sind (einer gesellschaftlichen Prägung), oder die Haltung, dass auch pubertierende Jungs potenzielle Vergewaltiger darstellen, wirken hier nicht provozierend, sondern reflektierend. Es geht nicht um Rache oder Hass, sondern um eine Suche nach Antworten, um ein existenzielles Ringen mit den Möglichkeiten.

Das ganze Set-up könnte didaktisch wirken wie eine theatralische Versuchsanordnung, bei der jede Figur mehr Funktionsträger als Charakter ist. Doch die Kunst von Polleys Autorenschaft besteht gerade in der unakademischen Intellektualität und ihrem mehrdeutigen Sinn für Humor. Das Ensemble verleiht dem Geschriebenen eine vibrierende Lebendigkeit. Sei es die nachdenkliche Ona (Rooney Mara), die hasserfüllte Salome (Claire Foy) oder die zögerliche Mariche (Jessie Buckley), die Persönlichkeiten der einzelnen Frauen entwickeln sich aus ihren teils widersprüchlichen Positionen.

Auch deshalb trifft der Originaltitel "Women Talking" den Geist der Geschichte wesentlich besser. Denn es geht nicht um eine "Aussprache", sondern um Frauen, die sich nicht mehr von einer patriarchalischen Ordnung zum Schweigen bringen lassen. (104 Min.)

In diesen Kinos läuft der Film.

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