Streamingdienste immer beliebter

Bedrohen Netflix und Co. das Kino? Eine Branche kämpft ums Überleben

20.6.2021, 19:28 Uhr
Scarlett Johansson ist die "Black Widow". Der Film läuft Anfang Juli parallel im Kino und als Stream bei Disney + an.

© via www.imago-images.de, NN Scarlett Johansson ist die "Black Widow". Der Film läuft Anfang Juli parallel im Kino und als Stream bei Disney + an.

Monatelang haben wir uns daran gewöhnt, Filme daheim am Bildschirm anzusehen. Ins Kino durften wir während des Lockdowns nicht, stattdessen saßen viele auf der Couch, um bei Netflix, Amazon Prime, Disney+ und Co. ihr Abendprogramm zu streamen. So wurde das stetige Wachstum der Anbieter durch die Pandemie noch befeuert. Im letzten Quartal 2020 knackte Netflix die Marke von 200 Millionen Nutzern. Inzwischen zählt man 208 Millionen Abonnenten weltweit.

Nun sind mit dem Cinecittà und dem Casablanca in Nürnberg, dem Babylon in Fürth sowie den Lamm-Lichtspielen und dem Manhattan in Erlangen einige Kinos der Region wieder geöffnet. Weitere folgen. Am 1. Juli wollen auch die Häuser der Cineplex-Gruppe starten, zu denen das Nürnberger Admiral gehört. Strömen die Filmfans jetzt in die Lichtspielhäuser? Oder bleiben sie den Streamern treu?

Zumal Disney seine neuen Filme parallel zum Kinostart teils auf seinem Streamingportal anbietet. Nach "Mulan" und "Raya und der letzte Drache" soll nun am 9. Juli auch "Black Widow" mit Scarlett Johansson zeitgleich hier wie dort starten. Warner praktiziert das Konzept in den USA seit 2021 bereits generell mit seiner eigenen Plattform HBO Max.

Filmbranche verändert sich

Keine Frage, die Filmbranche erlebt einen strukturellen Wandel. Originäre Netflix-Produktionen wie "Roma" oder Scorseses "The Irishman" hatten bereits 2018 eine extrem knappe Kinoauswertung. Das heißt, sie liefen nur kurz exklusiv auf der Leinwand, bevor sie gestreamt wurden. Netflix hielt sich schon damals nicht an das als Schutzfrist für die Lichtspielhäuser gedachte Verwertungsfenster, das hierzulande generell 120 Tage dauert.

Die Pandemie hat die Position der Streamingdienste noch gestärkt. Wenn die Filmkonzerne jetzt die Verwertungszeit verkürzten, sei das in erster Line eine Verschiebung von Erlösen und daher ein großer Nachteil für Kinobetreiber, sagt Christian Bräuer, Vorsitzender der "AG Kino - Gilde deutscher Filmkunsttheater", einem Netzwerk unabhängiger gewerblicher Kinos. Die müssten nun sehen, was sie noch besser machen und wie sie ihr Angebot ergänzen können. Etwa mit gut kuratiertem Programm, Events, Konzerten und optimaler Kundenkommunikation. Denn das habe man den Algorithmen von Netflix und Co. voraus, betont Fachmann, der auch die Yorck-Kinos in Berlin betreibt.

Wer streamt, geht auch ins Kino

Eine Umfrage bei seinem Publikum habe im vergangenen Sommer übrigens ergeben: Je öfter die Leute ins Kino gehen, desto mehr Streaming-Abos haben sie. Beziehungsweise umgekehrt. Bestätigt wird das von einer Studie der deutschen Filmförderungsanstalt (FFA) von 2018. Allerdings waren dort nicht einmal ein Viertel aller Kinobesucher Abonnenten eines Streamingdienstes. Wie gesagt: Vor der Pandemie.

"Streaming ist zuallererst Fernsehen. Ich glaube, wer das Gemeinschaftserlebnis schätzt, der geht auch wieder ins Kino. So wie man wieder ins Restaurant geht, statt sich beliefern zu lassen", ergänzt Bräuer. Das lasse ihn optimistisch nach vorn blicken, "auch wenn ich weiß, dass unser Markt nochmal schwieriger geworden ist". In einem öffentlichen Schreiben fordert die AG Kino nun von der Politik "sinnvolle, verhältnismäßige und bundesweit vergleichbare" Pandemie-Auflagen für Kinos bis 1. Juli.

Nach Bräuer könne die Koexistenz der Medien auch fruchtbar sein, wenn Disney und Co. sich kooperativ zeigen. Gut möglich, dass ein Film, der im Kino Geld in die Kassen spült, angesichts des Online-Überangebots und der Serien-Dominanz der Streaming-Anbieter untergeht. Der Netflix-Film "Mank" ist ein Beispiel dafür.

Neue Geschäftsmodelle getestet

Wolfram Weber vom Nürnberger Cinecittà hält das zeitgleiche Streaming von frisch gestarteten Filmen für ein "zentrales Problem". Die Major-Companies, allen voran Disney, hätten die Pandemie genutzt, um neue Geschäftsmodelle auszutesten. Sicher auch notgedrungen, weil die Kinos ja ausfielen. Es sei aber immer Ziel gewesen, das exklusive Kino-Verwertungsfenster nicht mehr so lange zu öffnen, wie sich das über die Jahre etabliert hatte.

Ein "unfreundlicher Akt"

Klingt paradox, wenn Weber darauf aufmerksam macht, dass das Jahr vor der Pandemie für Disney "mit Riesenabstand das erfolgreichste Kino-Auswertungsjahr ever" gewesen sei. Allein im Cinecittà sei die Hälfte des Umsatzes mit Produktionen von Disney beziehungsweise der übernommenen Fox gemacht worden. Da sei es ein unfreundlicher Akt, diese Filme zugleich auf dem eigenen Streamingkanal zu zeigen.

Streaming sei für ältere Filme oder Serien gut, meint Weber. Aber er ist ganz bei Christian Bräuer: Mit dem Gruppenerlebnis Kino sei es nicht vergleichbar. Weber vermutet, dass die Marktriesen "sehr schnell merken werden, dass ein großer Film erst ins Kino muss" - allein aus Gründen der Werbung. Ein Verwertungsfenster von etwa zwei Monaten hält er für sinnvoll. "Das wird auch wieder so kommen", ist er sicher. "Wir sehen das relativ gelassen".

Starke Filme locken die Fans

"Wenn sich die Lage normalisiert und starke Filme anlaufen, kommen auch die Leute", prophezeit auch Reiner Maurer, Leiter des Admiral Filmpalasts in Nürnberg. Die Methoden der großen Filmunternehmen hält er für kein gutes Zeichen, davon betroffen sieht er aber vor allem das Fernsehen. Für Christian Ilg wirkt sich das Vorgehen womöglich indirekt auf Programmkinos wie sein Babylon in Fürth aus: "Für Mainstream-Kinos könnte der Druck zunehmen. Wenn die dann auch kleinere Filme aus unserem Programm zeigen, wird es natürlich eng".

Matthias Damm vom Nürnberger Casablanca hat festgestellt, dass die Leute große Lust haben, wieder ins Kino zukommen, auch dank angesagter Filme wie "Nomadland" und "Der Rausch". "Wir sind in einer anderen Lage als die Multiplexe, weil wir Programm außenrum machen", betont er. Wie Weber ist er der Meinung, dass zu viele Filme anlaufen. Im August sollen es um die 60 sein. Klar herrsche gerade eine Sondersituation, weil es durch Corona einen Stau gebe. Aber nicht jeder Film müsse ins Kino. "Was wir brauchen, sind gute Filme."

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