Roman von Nürnberger Autorin
Beeindruckendes Debüt: Marion Karausches "Der leere Platz" ist packend und authentisch
4.10.2021, 12:21 UhrEigentlich eine perfekte deutsche Familie: die Eheleute Marlen und Martin Lorenz mit ihren Kindern Kai und Amy. Sie leben privilegiert in Marokko, weil Martin dort einen guten Job bei einer großen Firma hat. Mit den Worten der Hauptperson Marlen: "In ihrem Leben, dachte sie oft zufrieden, stimmte alles".
Dann aber fällt ein dunkler Schatten in die aufgeräumte Idylle: der 18-jährige Kai kündigt an, eine Europareise zu unternehmen - von der er zunächst nicht zurückkommt. Erst nach drei Monaten meldet er sich wieder: er habe Zeit für sich gebraucht! Jetzt will er in Mainz studieren... Die nächste E-Mail kommt aus Peru mit rätselhaften Inhalten: "Erwachen nach einem langen Schlaf... Wiedergeburt... Befreiung".
Ab diesem Moment bricht endgültig das Motiv vom verlorenen Sohn in den Roman, er ist zwar zurückgekehrt, aber als Fremder. Es folgen Wochen auf der geschlossenen Station und die Diagnose: schizophrene Psychose. Ab diesem Moment erleben wir den Kampf einer Mutter um ihren Sohn und die Suche nach eigener Schuld sowie nach erblichen Belastungen in der Familie.
Wer eine solche Geschichte so authentisch und so packend erzählen kann, muss alles selbst erlebt haben. Es ist deshalb nachvollziehbar, dass die Autorin drei Schutzmauern gegen literarischen Voyeurismus eingezogen hat: sie schreibt unter einem Künstlernamen (die Karausche ist ein Karpfenfisch), sie hat Namen und Orte geändert und sie vermeidet die Ich-Erzählweise.
Dennoch wird man als Leser von der Wucht der Entwicklungen erfasst; gegen diesen Roman ist Juli Zehs "Neujahr", dass mit ähnlichen Psycho-Motiven arbeitetet, ein Lüftchen. Beeindruckend für ein Debüt ist die schnörkellose Sprache im nüchternen epischen Präteritum, fernab von Kitsch und Larmoyanz. Traurig, aber wahr: die großen Romane entstehen aus Katastrophen und Krisen – wenn man noch die Kraft hat, alles zu Papier zu bringen.
Marion Karausche, geboren in Deutschland, ist mit ihren drei Geschwistern in Madagaskar aufgewachsen. Sie hat an der Sorbonne in Paris und an der University of Kent studiert und dann als Dolmetscherin (Französisch, Englisch, Deutsch) gearbeitet. Bis Anfang 2021 lebte sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Nahen Osten, wo sie als Übersetzerin und Sprachlehrerin tätig war. "Der leere Platz" ist ihr erstes Buch.