Meinung
Cancel Culture: Wer bestimmt, was gesagt werden darf?
13.1.2021, 13:19 UhrWer Unsinn nachplappert oder Tatsachen verfälscht, oder nachgeplapperten Quatsch oder Fakes sich verschafft und in den Meinungsverkehr bringt, wird mit 'Cancel Culture' nicht unter lebenslänglich bestraft". Wäre das ein nützlicher Warnhinweis? Würde der die ungezählten un- und irrsinnigen Falschmeldungen, die verqueren Ansichten und provozierenden Absichten aus der Welt schaffen? Oder müsste man da schon von Zensur sprechen, weil jemandem das Wort abgeschnitten wird, das er oder sie bewusst oder unbedarft im aufgerissenen Mund führt oder hinter (noch) vorgehaltener Hand verbreitet?
Nach "KZ"-Äußerung: Sänger Wendler aus "DSDS" herausgeschnitten
Klären wir erst einmal diesen neumodischen Begriff "Cancel Culture". Darunter versteht man laut Lexikon "eine übermäßige Verbreitung systematischer Boykotte von Personen oder Organisationen, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen bzw. Handlungen vorgeworfen werden." Das Verbieten einer anderen Meinung ist also somit in den Stand einer kulturellen Tat erhoben worden. Wer Missliebiges oder gar Falsches unterbindet, ist ein Wohltäter, wenn nicht gar ein Held.
Twitter zum Beispiel wird derzeit viel gelobt, weil der Dienst Donald Trump den Saft abgedreht hat; auch RTL ist flugs auf der guten Seite, wenn der Sender Michael Wendler aus der fertigen Show schneidet, weil der mal schnell die Corona-Maßnahmen mit Konzentrationslagern in Verbindung brachte. Nun wird kaum jemand die Trump’schen Lügen oder die Wendler’schen Schwachsinnigkeiten als Beiträge geistig hochstehender Persönlichkeiten einstufen. Dennoch schreiben sich hier die Mitstreiter der Absage- oder Löschkultur einen Sieg auf ihre Fahnen.
Missverstandene Satire
Und da wird es eben schwierig. Laut Wikipedia ist "Cancel Culture” eine "umstrittene" und "ambivalente" Errungenschaft unserer Zeit. Nicht zuletzt deshalb, weil sie eben auch die Falschen treffen kann.
Jüngstes Beispiel ist die Kabarettistin Lisa Eckhart, die in ihren Shows satirisch Volkes Meinung aufspießt und einen braunen Sumpf aufdeckt, der unter der dünnen Decke der Anständigkeit brodelt. Weil sie das so perfide tut, wird sie selber als Verbreiterin nationalistischen und faschistischen Gedankenguts gebrandmarkt – und aus Veranstaltungen geschmissen.
Eigentlich müsste der Unterschied für jeden verständlich sein: Trump und Wendler meinen das, was sie sagen, leider ernst; Eckhart dreht den Spieß um und schleudert dem Volk seine eigene Unbedarftheit, seinen gefährlichen Hang zur Verallgemeinerung und seinen naiven Umgang mit Tabus ("Das wird man doch noch sagen dürfen!") wie einen Fehdehandschuh zurück. Die einen lügen, die andere übertreibt; die einen wollen zu ihrem Wohl oder nur aus reiner Dummheit publik werden, Künstler wie Eckhart aber sorgen sich um den Zustand einer Welt, in der gerade diese anderen – Trump und Wendler & Co. – das Sagen haben.
Irgendwo dazwischen könnte man den ebenfalls schlagzeilenerprobten Spaßmacher Dieter Nuhr ansiedeln, der den menschengemachten Klimawandel anzweifelt und die Corona-Maßnahmen übertrieben findet, und bei dem man nie so genau weiß, ob er nun ein Wiederkäuer schnell verzapfter Schwurbeleien ist oder doch listig wider den Stachel löckt.
Allen – und noch vielen weiteren – ist aber eines gemein: ihnen wird die Plattform entzogen. Und zwar von Zeitgenossen, die es nach eigenem Bekunden eigentlich nur gut mit uns meinen. Die aufmerksamen Kultur-Cancler wollen uns nämlich bewahren vor dem Bösen. Sie setzen ihr ganzes Engagement daran, uns den Schund und die Lügen vom Hals zu halten, sie wachen über die keimfreie Unterhaltung und die unzweideutig einzuordnende Haltung. Sie schreien auf, wenn sie auch nur den Verdacht einer Diskriminierung entdecken, sie zetern, wenn eine Minderheit nicht in den Genuss der Privilegien der Mehrheit kommt.
Soziologe: "Wir Deutschen klagen auf hohem Niveau"
Tatsächlich aber trauen sie uns selber längst nicht mehr zu, dass wir auch fähig sein könnten, zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Also versuchen sie mit aller Macht, die ihnen zur Verfügung steht, das vielleicht Unbequeme und sicher oftmals auch Unsägliche zu tilgen, bevor es überhaupt noch nach Außen dringt.
Das Ende der Diskussion
Auftritts- und Redeverbote sind diktatorische Maßnahmen und werden durchgesetzt von Machthabern, die Angst vor mitdenkenden Menschen haben. Auf der Strecke bleibt die Diskussion, die mit ihren Gegnern streiterprobte Auseinandersetzung wacher Zeitgenossen, die sich nichts vorschreiben lassen wollen und die ebenso lautstark wie die Verbreiter handfesten Unfugs mit Argumenten eingreifen.
Kultur ist – gerade in diesen Zeiten, in denen man so leichtfertig mit ihr umgeht – keine Sache, die unterbunden, sondern die gepflegt werden muss. Wenn ihr Niveau unterschritten wird (siehe Trump und Wendler und andere Verschwörer), dann merkt das der wache und kritische Mensch sehr schnell. Wenn sie ihre vielfältigen Instrumente auspackt, die Satire, die Provokation, die Überschreitung des "guten" Geschmacks, dann sollte der Konsument nicht zurückschrecken oder sich die Ohren verstopfen (lassen), sondern aufwachen, aufschrecken, selbst wenn es weh tut.
Letztens saß ich im Zug und nach jedem Bahnhof erinnerte der Schaffner via Lautsprecher an das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes. Und jedes Mal fügte er entschuldigend hinzu, er möchte hier wirklich nicht den "Oberlehrer" spielen. Es war ihm offensichtlich lästig, immer wieder an eine Selbstverständlichkeit zu gemahnen.
Genau das aber findet im Rahmen der "Cancel Culture"-Aktionen statt: oberlehrerhaft werden wir gegängelt, weil uns niemand mehr vertraut, niemand mehr zutraut, dass wir sehr wohl den Sinn vom Unsinn zu trennen fähig sind. Dass wir die Falschmünzer erkennen.
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