Die Industriehalle als Fantasiehalle
21.09.2012, 15:15 Uhr
Am Ende ist die Kunst eine winzige Pille. Sieben Etagen, 1200 Quadratmeter Ausstellungsfläche und entsprechend viele Treppenstufen hat man da in der Präsentation „Beast“ bereits hinter sich. Hat Einblicke in die frischesten Ideen junger deutscher Künstler genommen und weite Ausblicke durch die Hallenfenster nebenher. Und schlussendlich steht dann dieser weiße Sockel mit einem Winzling von Substanz obendrauf vor einem – die klitzeklein alles enthalten soll.
Das ist insofern möglich, weil Luca Vanello, ein Berliner Kunststudent, von sämtlichen Beiträgen der Nürnberger Schau ein Stück „abgekratzt“ haben will, um es feinzustampfen und als „Exhibition Pill“ vorzuführen. Dass die ganze Ausstellungen an Haupt- und Nebenwirkungen arm sei, lässt sich wahrlich nicht behaupten. 75 Studierende von fast allen deutschen Kunstakademien sind bei „Beast“ dabei.
Oder hat man die Mega-Präsentation nur geträumt? Im Schlaflabor von Carmen Loch? Die im vierten Stock für jeweils zehn Minuten zwei Krankenhausbetten anbietet, im Gegenzug aber die Träume der Ruhenden seismographisch aufzuzeichnen gedenkt?
Nein, das große Ganze ist real. Doch wo Kunst kaum Grenzen kennt, wie in vielen Beiträgen, welche die Kuratorinnen Lisa Saumweber und Jasmin Schmidt aus 200 Bewerbungen findig ausgewählt haben, wird Kunsterfahrung schon mal zur Wissenschaft.
Für die Künstler wiederum ist der Job zuweilen ein Härtetest. Steht man vor dem Video von Markus Walenzyk (Mainz), hat keiner was zu lachen. Zum Luft anhalten schon eher, ein Stück Gruselkunst bahnt sich an: Denn der Künstler ist in Nahaufnahme zu sehen, wie er sein Gesicht in frisches Wachs eintaucht und sich buchstäblich die Atemwege freischnaufen muss, während sein Konterfei bizarr zerläuft, bis das Wachs getrocknet ist.
Da sind die Szenen auf den Bildschirmen von Monika Gropper (Nbg.) doch anders geartet. Die Nürnberger Studentin ist zu beobachten, wie sie mimisch und akustisch abwechselnd eine Kröte, eine Kuh, ein Huhn und einen Hund nachahmt. Ja, die Kunst darf auch heiter sein. Oder verflixt, wie in der Installation mit 81 „stehenden“ Besen von Michael Roggon (Berlin): Nur wenn die Borsten der Kehrseite im richtigen Winkel ausbalanciert sind, bleibt das Gleichgewicht gewahrt und das Ding fällt nicht um. Die Besucher dürfen es ausprobieren ...
Gerade da, wo die Künstler Bezüge zum Ausstellungsraum aufnehmen – in denen sich früher der Verwaltungstrakt befand – wird es spannend bei „Beast“. Tobias Keck (Nbg.) hat etwa mit acht Kilometern Tesafilm einen Büroraum verklebt. Für seinen Beitrag in der alten Küche wiederum zersplitterte Christoph Mügge (Düsseldorf) Holz in Stücke, bemalte sie blutrot und schweißte sie dann in Folie ein – so dass man tatsächlich einen Batzen rohen Fleisches vor sich zu sehen glaubt.
Während die Stockwerke mit einer Klopfinstallation im Heizungssystem von Christian Kröber (Nbg.) zum Klangraum werden, geht es bei den zwei Waschmaschinen–Motoren von Fabian Fontain (Weimar), die sich durch stetes Aneinanderstoßen bekriegen, noch brachialer zur Sache.
Mancher Beitrag stammt frech und frei aus der Schule der Fantasie. Die Installation „Autoversuch“, von Severin Kirschner (Nbg.) ist ein Beispiel dafür. Mit simpelsten Gegenständen – etwa einem Teppich als Dach oder selbstgefilzten Pflastersteinen im Handschuhfach – versucht er, die Form eines PKWs nachzubilden.
Hinter dem Kunst-Spektakel am Wochenende steckt als Kapitän des Kreativgewerbe-Tankers „Auf AEG“ nach wie vor Bertram Schultze, der das alte Firmenareal binnen der letzten fünf Jahre mit Zwischennutzern zu füllen verstand. Und der zudem seit 2001 Geschäftsführer des Leipziger Kunstrefugiums Baumwollspinnerei ist. Als „Auf AEG“ 2011 zum Wochenende „offene Türen“ hatte, kamen Tausende.
Die große Ausstellung „Parcours II“, die Margret Hoppe und Andreas Oehlert kuratiert haben, findet erneut in der alten Montagehalle statt. Hier nutzen Künstler des Areals die gigantische Raumkulisse – rauf und runter. Etwa die „Weltanschauungsbeauftragten“ Philipp Moll und Martin Fürbringer die in der Dunkelheit des Kellergeschoßes die tiefgründige Frage anreißen: „Opa, was machen die Leute auf dem Friedhof eigentlich die ganze Zeit?“ Das Ganze wird von Moll und Fürbringer vor dem Hintergrund thematisiert, dass nahezu alle Weltreligionen das Sterben als Befreiung vom irdischen Ungemach darstellen – während die Künstler sich dann doch zu fragen trauen: „Stimmt des eigentlich?“ (Moll). Um ihre Frage zu untermauern haben sie zwei Särge zu Lautsprecherboxen umfunktioniert und einen Sockel mit Bildschirm hingestellt. So zeigen sie quasi im Hades „unter AEG“ selbstgedrehte Vanitas-Filme, die etwa „Warte nur“ heißen. Und werden von der Psaltervertonung „Ich bin ein Fleisch“ des Musikers und Komponisten Martin Staeffler unterstützt.
Auch die Gestaltung der Haupthalle, die den 45 Positionen von rund 70 Künstlern angenehm viel Luft lässt, gebührt Lob. Silva Weiß zeigt einfühlsam inszenierte Fotografien von jungen Menschen an der Schwelle zum Erwachsensein – und zitiert gleichzeitig Ikonen klassischer Malerei. Emma Parc hat sich die Freiheit genommen, einen pop-artigen Popo-Akt zentimeterklein auf eine metergroße weiße Wand zu malen. Yvonne Degrell setzt sinnliche Reize, indem sie schemenhafte Fotografien von Badenden in milchiges Hell tauchen lässt. Während Dashdemil Sampil seine mongolische Malerei ebenfalls nicht unter seinen Scheffel stellt – sondern in eine selbstgebaute Jurte. Die Halle ist groß genug.
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