Johannes Grützke – ein Parodist der Realität
14.4.2021, 09:49 UhrEr war kein Liebling der Kunstkritik. Auch in den Museen sucht man ihn noch heute oft vergeblich: Johannes Grützke, 2017 in Berlin verstorben, war ein Anarchist seiner Zunft. In einer Zeit, in der die Abstraktion die alles beherrschende Maxime auf der Leinwand war, malte er Menschen; theatralisch, seelenlos, bizarr. Bemitleidenswerte Typen, die sich, uniformiert in Hemd und Krawatte, nach Fortschritt und Gemeinschaft sehnen, doch scheitern an ihrer eigenen Kleinbürgerlichkeit, ihrem Durchschnittsdenken und ihrer Konformitätssucht. Die Frauen hingegen bewegen sich außerhalb dieser homogenen, ritualbehafteten Männergesellschaft. Sie sind Modelle im Atelier des Künstlers. Nackt, in geradezu architektonischer Haltung, verweist ihre Rolle auf die allegorische Behandlung des Weiblichen in der Kunst.
Grützkes markiger Figurenstil passt zu dem sinnentleerten Sozialverhalten seines Personals. Dauergrinsende, karikaturistisch verzerrte Gesichter, die heuchlerisch Komplizenschaft versprechen, lassen das Individuum völlig außen vor. Tatsächlich ist es der Künstler selbst, der uns aus seinen Bildern angrinst. Die Selbstbeschau hat Grützke bis zur Schmerzgrenze betrieben. Darin, aber auch in der nahezu pathetischen Opulenz und Dramatik der Bildformeln, zeigt sich seine Bruderschaft mit den Großen der Kunstgeschichte. Caravaggio, Rembrandt, Delacroix, Ingres sind nur einige seiner Bezugsgrößen.
Der Abhängigkeit von den Alten Meistern war er sich immer bewusst, ja machte sie sich sogar zum Vorteil, als Ausgangspunkt seiner eigenen Bildsprache. „Kunst ist nicht modern, sondern immer!“, sagte er einmal. Mit dieser Position lässt sich Grützke nur mit wenigen seiner Zeitgenossen vergleichen. War es wohl aber gerade die Nähe zur Malerei der Leipziger Schule, allen voran Werner Tübke, die ihm in seiner West-Berliner Heimat ein gewisses Naserümpfen bescherte.
Unter dem Titel Der Blick aus dem Bild zeigt das Neue Museum Arbeiten aus der Sammlung Böckmann, vornehmlich in den 1960er und 1970er Jahren datiert. In dieser Phase entwickelte Grützke seinen Stil zur Vollkommenheit und schuf einige ikonenhafte Werke, mit denen er sich ins Gedächtnis der deutschen Nachkriegsmalerei einbrannte. Noch weitere Neueinrichtungen warten auf die Besucherinnen und Besucher sobald das Haus wieder öffnen darf; darunter Punctum, eine Zusammenschau verschiedener Spielarten zeitgenössischer Fotokunst in Form einer Petersburger Hängung sowie die Präsentation Leiblinien mit verstörend schönen Arbeiten der russischen Künstlerin Dasha Shishkin. https://nmn.de
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