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Leid und Luxus: "Mythos Davos" im Germanischen

2.6.2021, 15:37 Uhr
Collage aus Ernst Ludwig Kirchners Gemälde "Sertigtal im Herbst" (1925/26) und einer Fotografie des Davoser Sanatoriums Valbella von 1924.

© Kirchner Museum Davos - Schenkung Erbengemeinschaft Amstad 2000 / Medizinmuseum Davos Collage aus Ernst Ludwig Kirchners Gemälde "Sertigtal im Herbst" (1925/26) und einer Fotografie des Davoser Sanatoriums Valbella von 1924.

"Eine Ziege hat mir die Hand geleckt, hab sie sofort gezeichnet“: Dass ein Großstadtkünstler wie Ernst Ludwig Kirchner (1880 –1938) für den Rest seines Lebens kugeläugige Kühe, runzlige Almbauern und meckernde Bergziegen malen sollte, der doch zuvor für die Kokotten Berlins mit ihren Pelzkrägen und Federhüten zuständig war – wer hätte sich das träumen lassen? Der Künstler selbst wohl kaum, obwohl ihm, dem sonst weder Träume noch Räusche fremd waren, selbst wohl kaum.

Mit diesem Plakat wurde 1907 für den "Wintersport in Graubünden" geworben. In dem Schweizer Kanton liegt Davos.

Mit diesem Plakat wurde 1907 für den "Wintersport in Graubünden" geworben. In dem Schweizer Kanton liegt Davos. © Ute Bock, Germanisches Nationalmuseum

Doch plötzlich zerfurchte der Erste Weltkrieg das europäische Leben. Morphiumsüchtig und mit Lähmungserscheinungen kam Kirchner, vor dem Kriegsdienst fliehend, auf einen Winterschlitten gepackt 1917 auf der Davoser Stafelalp an.

Jetzt befeuern 45 seiner expressiven Gemälde, Zeichnungen und Graphiken in oft glimmenden Farben die facettenreiche Schau „Europa auf Kur“ im Germanischen Nationalmuseum (GNM). Eine Ausstellung, die natürlich auch von Thomas Manns Klassiker „Zauberberg“ (1924) über die Visionen und Katastrophen Europas erzählt. Überhaupt hat der „Mythos Davos“ hier einen starken Auftritt.

Sieben Jahre Vorbereitung

Mit gut 250 Exponaten aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Medizin- und Kurgeschichte, Wintersport, Kunst und Philosophie gelingt es GNM-Direktor Daniel Hess als Kurator nach sieben Jahren Vorbereitungszeit, eine der markantesten Umbruchsepochen europäischer Geschichte anhand eines Bergdorfs zu bebildern.

Davos hatte sich seit 1870 in kürzester Zeit von einer Ansiedlung mit rauen Wintern zum internationalen Luftkurort gemausert. Dem „Landschaftsarzt“ Alexander Spengler war es 1865 mit einem Mix aus „kalten Douchen“, Molkekuren, Liegen an der Frischluft und leichten Wanderungen gelungen, einen deutschen Revolutionär und einen Buchhändler von Tuberkulose zu heilen. Was für ein Lichtblick in der Tbc-Pandemie!

Spengler veröffentlichte ein Buch darüber und hoffnungsvolle Lungenkranke rannten alsbald nicht nur ihm die Praxis ein, sondern dem halben Dorf. So dass es bereits 1877 neben einer Kuranstalt sieben prunkvolle Hotels und 30 Pensionen und Villen für Gäste gab.

1890 verknüpfte der Bau der Rhätischen Bahn das einstige Kuhkaff mit Europa. Und welches andere Nest war um 1910 medizinisch so mondän, sich 27 Röntgeninstitute zu leisten? Das Antibiotikum wurde ja erst später erfunden. Zu diesem Zeitpunkt raffte die Tuberkulose noch jährlich zigtausend Menschen dahin.

Kultur und Kreatur

Vor dem Hintergrund der dramatischen Bündner Bergkulisse, die von der Ausstellungsarchitektur trefflich eingefangen wird, geht es um Existenzielles. Um Luxus und Leidenschaft in Anbetracht der Todesnähe, aber auch um Verzweiflung und Kreativität.
Arthur Conan Doyle, der Erfinder von Sherlock Holmes, begleitete seine kranke Frau hierher, ließ seinen Meisterdetektiv 1893 sterben und begann selbst ein neues Leben auf der Skipiste. Robert Louis Stevenson schrieb1881/82 in Davos „Die Schatzinsel“ - vor der Szenerie schneebedeckter Dreitausender.

Schwarzweißfotografien bezeugen, wie Albert Einstein zum wissenschaftlichen Diskurs in Graubünden vorbeischaute und Sonja Henja, die erfolgreichste Eiskunstläuferin aller Zeiten, dort oben ihre Rekorde aufstellte.

Beileibe nicht alle fanden das Davoser Sonnendeck der Natur so paradiesisch anmutend, dass sie es wie Kirchner flammend, den Südseebildern eines Paul Gauguin (1848 –1903) artverwandt, malten. Wo Kirchner Lust sieht, zeigt ein Philipp Bauchknecht (1884 –1933) Laster - in Gestalt betrunkener Streithähne und fratzenschneidender Einheimischer. Was für ein ganz anderer Blickwinkel auf ein und denselben Ort. Kultur und Kreatur ergeben ein starkes Spannungsfeld in der Schau.

Wer wo abstieg

Schmucke Spucknäpfe für Lungenkranke („Der blaue Heinrich“ genannt), aber auch Rodelschlitten begegnen beim Rundgang. Im Magazin „Davos“ konnte man außerdem nachlesen, welcher Promi gerade wo eine Suite bezog.

Ernst Ludwig Kirchners Gemälde "Die Brücke bei Wiesen" (1926).

Ernst Ludwig Kirchners Gemälde "Die Brücke bei Wiesen" (1926). © Stephan Boesch / Kirchner Museum Davos / Schenkung Landschaft Davos Gemeinde 1982

Es war freilich ein Sehen und Gesehenwerden, das hier rasch zum Liegen und Liegenlassen geriet. Im Liegestuhl bei der Höhenluftkur wurden alle zur gleichen Schicksalsgemeinschaft verbannt.

Der Fokus der Präsentation liegt auf den Jahren 1870 bis 1930, als Europa massiv im Umbruch war. Aus dem letzten, dunkelsten Kapitel der Ausstellung hallen Schüsse. Denn auch Nazi-Größen wie Wilhelm Gustloff kamen zur Tbc-Kur, bildeten braune Seilschaften, tanzten den serviceorientierten Schweizern – so zeigt es eine Karikatur – buchstäblich auf der Nase herum. Der jüdische Medizinstudent David Frankfurter machte Gustloff schließlich ungewollt zum Nazi-Märtyrer, indem er ihn niederschoss.

Der Griff zur Pistole

Kirchner, der nie an Tuberkulose, dafür an Gustloff und Konsorten litt, setzte seinem Leben am 18. Juni 1938 in Frauenkirch-Wildboden bei Davos mit einer Pistole selbst ein Ende. Seine Waffe, eine original Browning, ist im GNM der gänsehauterregende Schlusspunkt. Eine Schau, die nachhallt.

Info:

Der Besuch der Ausstellung ist nur mit Zeitfensterticket möglich. Germanisches Nationalmuseum, Kartäusergasse 1, Nürnberg. Di - So. 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 20.30 Uhr. Katalog 45,50 Euro. www.gnm.de

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