Das sollten Sie lesen
Unsere Buchtipps für den Jahresanfang
10 Bilder 27.1.2022, 11:41 UhrWas man hört, sieht und fühlt, wenn man im Wachkoma liegt? Sogar diese Frage beantwortet Friedrich Christian Delius in diesem sehr offenen Buch (und wir wollen nur soviel sagen: es ist wie ein Gangsterfilm!). Ein Virus legte ihn 2008 lahm, bis zur Bewusstlosigkeit, drei Wochen lang. Bezeichnend, wie die autobiografischen Erzählungen in "Die sieben Sprachen des Schweigens" aber dennoch leicht und heiter sind. Ja, fast schon lustig, wenn er zum so harmonisch empfundenen Spaziergang mit dem Kollegen und KZ-Überlebenden Imre Kertesz durch Jena anmerkt, was er alles gedacht, aber dann lieber doch nicht gesagt hat... (Rowohlt, 20 Euro) Wolf Ebersberger © Rowohlt Verlag/Montage: Sabine Schmid
Er verliert seine Frau und gewinnt eine Enkelin: Kaspar Wettner, feinsinniger Buchhändler und Hauptfigur in Bernhard Schlinks neuem Roman, steht mit 71 Jahren vor einem völligem Umbruch. Sigrun, 14, ist zwar wohlerzogen und nett, verehrt aber – weil aufgewachsen in einer völkischen Siedlung im Osten Deutschlands – den Nazi Rudolf Heß. Den Holocaust hält sie für eine Lüge. Wettner versucht vorsichtig, dem Teenager andere Perspektiven aufzuzeigen: Wird es gelingen? "Die Enkelin" - arg konstruiert, aber wie immer unterhaltsam (Diogenes, 25 Euro). Marco Puschner © Diogenes Verlag/Montage: Sabine Schmid
Keinen Seitensprung, sondern einen "Seitenwechsel" wagt die hübsche, hellhäutige Clare: Gibt sich im New York der 20er Jahre als Weiße aus, obwohl sie schwarz ist, mit entsprechendem sozialen Erfolg. Ihre Jugendfreundin Irene sieht es mit Befremden, aber auch Faszination: Gefühle, die ihr eigenes Leben immer mehr in Frage stellen. Die englische Schauspielerin Rebecca Hall hat den schönen kleinen Harlem-Roman von Nella Larsen in intimem Schwarzweiß verfilmt, konzentriert und wie ein Kammerspiel (neu auf Netflix zu sehen), aber auch die Lektüre lohnt (Dörlemann, 20 Euro). Wolf Ebersberger © Dörlemann Verlag/Montage: Sabine Schmid
Die zweifelhafte Erfolgsgeschichte unter den Nazis, seine eigenen moralischen Kämpfe gegen politische Vereinnahmung und künstlerische Unfreiheit liegen "ein paar tausend" Jahre zurück. In Michael Tötebergs penibel recherchiertem und sehr lesbarem Roman geht es jetzt um "Falladas letzte Liebe" (Aufbau Verlag, 22 Euro). Also um die Zeit nach 1945, die der einstige Starautor in der DDR verbrachte, zusammen mit seiner Ulla und den Granden des ostdeutschen Kulturbetriebs. Körperlich desolat und abhängig von der Droge, rafft er sich noch einmal auf und schreibt "Jeder stirbt für sich allein". Aber die Kraft lässt nach, der Tod hat freie Bahn... Bernd Noack © Aufbau Verlag/Montage: Sabine Schmid
Das ist ja kokett: Kirsten Fuchs will an ihr Erfolgs-Jugendbuch "Mädchenmeute" anknüpfen, indem sie drei Buchstaben dranhängt? "Mädchenmeuterei" nennt sich ihr neuer Roman, in dem sie ihre siebenköpfige Teenagerinnen-Bande ein Abenteuer auf hoher See erleben lässt, einen "Seatrip" statt Roadtrip. Ein paar Längen seien der Berliner Autorin verziehen in der insgesamt sehr erfrischend und im richtigen Maß flapsig formulierten Geschichte über Selbstbehauptung für ein jung gebliebenes Publikum; ein bisschen Sozialkritik inbegriffen (Rowohlt Berlin, 22 Euro). Isabel Lauer © Rowohlt Verlag/Montage: Sabine Schmid
Gefühlt ein gutes Dutzend Bücher erscheint jedes Jahr neu über die Malerin Frida Kahlo, sogar für Kinder: Man kommt also kaum nach! Lohnenswert ist diese kleine Bildbiografie nach dem Rezept einer französischen Sachbuchreihe, die jetzt auch auf Deutsch vorliegt. "Ich male meine eigene Wirklichkeit", so der Titel von Christina Burrus, erzählt kompakter als viele andere vom schmerzensreichen Leben und dem doch so vitalen Werk der mexikanischen Ausnahmekünstlerin (Schirmer/Mosel, 14,80 Euro). Wolf Ebersberger © Schirmer/Mosel Verlag/Montage: Sabine Schmid
Hallo, Frau Diskriminierungsbeauftragte, Abteilung Vierbeiner, kann man den Namen vielleicht bald mal ändern? Wer wird denn schon gern "Faultier" genannt, nur weil man ein bisschen langsamer ist im Leben, sozusagen existenziell durchhängt und sich nicht selbst das grüne Zeug aus dem Fell kämmen kann? (Ai ist keine Alternative, da denken alle an Wei-Wei!). In der Reihe der "Naturkunden" legen Tobias Keiling und Heidi Liedke nun jedenfalls einen Band vor, der alles tut, um den trägen Tropenbewohner in seiner seit je schlechten Reputation zu rehabilitieren. Und kuckt er beim Chillen, wie man heute sagen würde, nicht unheimlich niedlich? (Matthes & Seitz, 20 Euro) Wolf Ebersberger © Verlag Matthes & Seitz Berlin/Montage: Sabine Schmid
Mehr als Gordon Sumner kann man beruflich kaum erreichen. Der Mann, den die ganze Welt unter dem Namen Sting kennt, ist als Musiker selten begnadet und dabei wandelbar wie ein Chamäleon. Als Mensch ist er einer von den Guten. So inszeniert er sich mitunter auch selbst. Und dafür applaudiert ihm der Journalist Martin Scholz in dem kleinen Gesprächs-Band "Sting - Message In A Book", übrigens unter besonderer Berücksichtigung der wechselnden Haupt- und Kinnbehaarung des Musikers. Etwas kritischer ist Bestseller-Autor Frank Schätzing, der sich überraschend als genauer Kenner des Sting-Universums entpuppt. Wer den "Englishman in New York" schätzt, erfährt hier sicher noch Neues. (Kampa Verlag, 22 Euro) Birgit Nüchterlein © Kampa Verlag/Montage: Sabine Schmid
"In der Jugend fiel mir auf, dass es mir an Genie mangelt, später offenbarte sich ein ein totaler Mangel an Talent, Disziplin kannte ich auch nicht, faul war ich sowieso, hielt mich aber immer für einen wackeren Schriftsteller." Wer so schreibt, hat gleich unsere Sympathie, ja Liebe, und wie immer braucht Otto Jägersberg dafür auch in "Pianobar" keine Handlung, sondern nur kunstvoll hingeworfene Sätze, schlaue Notizen, hinreißend schräge Anekdoten. Zum Wohl! (Diogenes, 24 Euro). Wolf Ebersberger © Diogenes Verlag/Montage: Sabine Schmid
Im Berliner Theater des Westens strömen die Menschen zur Revue über das Jahr 1956 und auf dem realen Boulevard haben längst wieder das Leben und der Luxus Einzug gehalten: "Der Kurfürstendamm" im Westen der Hauptstadt ist ein Magnet für Einheimische und Touristen. Wie er wurde, was er ist, seine Glanzzeit und seinen Niedergang schildert der Architekturkritiker Rainer Haubrich in seiner schönen und kurzweiligen Geschichte über die Prachtstrasse, die als banaler Reitweg mit kleinen Villen am Rand hinaus zum See begann. Die wunderbaren Bauten, das quirlige Leben zwischen Romanischem Café, Varieté, Theatern und Nobeletablissements kamen erst am Ende des 19. Jahrhunderts. Mit dem illustrierten Führer und seinen Geschichten kann man heute prima schlendern (Insel Verlag, 15 Euro). Bernd Noack © insel taschenbuch/Montage: Sabine Schmid