Das sollten Sie lesen
Von Helga Schubert bis Rick Rubin: Unsere Buchtipps für den April 2023
13 Bilder 28.4.2023, 05:50 UhrBeim letzten Erlanger Poetenfest hat sie, die tolle Helga Schubert, schon ein bisschen geplaudert. Zum Beispiel, wie die Stasi ihren Mann, einen Unidozenten für Psychologie, mit attraktiven Studentinnen zu ködern versuchte. Sie war ja selbst einmal seine Schülerin. Ihr aber blieb er treu, und sie ihm jetzt auch. Jetzt, wo er daheim in seinem Pflegebett liegt, mit Windel und Katheder, und rund um die Uhr versorgt werden muss. Dabei ist Schubert auch schon 83. Manchmal erkennt er sie gar nicht mehr, aber was soll's! All das erzählt sie in "Der heutige Tag", ganz leicht, wie ein Lobgesang. Der schöne Untertitel: "ein Stundenbuch der Liebe", auch des Glücks und seiner Schatten. (dtv, 24 Euro) Wolf Ebersberger © dtv/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Der Jakob-Wassermann-Preisträger Clemens J. Setz übertrifft sich wieder einmal selbst. Mit "Monde vor der Landung" legt er einen auf Tatsachen basierenden, glänzend geschriebenen und hinterfotzig konstruierten Roman über einen Verschwörungstheoretiker in den 1920er Jahren vor, der ohne Mühe in unsere Zeit der falschen Meldungen und aufgebrachten Lügen verweist. Peter Bender verbreitet mit religiösem Eifer die Theorie, dass wir nicht auf der Erde, vielmehr in einer Kugel leben. Ein Querdenker avant la lettre – und doch erscheint er tragisch, als ihm die Nazis mit ihren noch viel schlimmeren Unwahrheiten ins egozentrische Handwerk pfuschen. Das Buch gerät zu einer berührenden Geschichte über einen lächerlichen Menschen, der vom Holzweg nicht abkommen kann und will und an der grausamen Wirklichkeit scheitert. (Suhrkamp, 26 Euro) Bernd Noack © Suhrkamp/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Zu kitschig, zu schematisch: Historische Romane schlagen viele anspruchsvolle Buchliebhaber in die Flucht. Sie sollten es mit diesem Titel probieren: "Matrix" erzählt taufrisch, spannend und sogar erotisch vom Hochmittelalter, und das in sorgfältig gewählter Sprache. Die US-Amerikanerin Lauren Groff hat sich dafür eine Lebensbeschreibung der Marie de France ausgedacht, wie sie gewesen sein könnte. Marie de France ist die älteste überlieferte Dichterin und Minnesängerin Frankreichs in der Zeit um 1200, über ihre Biografie ist nichts bekannt. Bei Groff wird sie zur "Matrix" – hier in der Bedeutung von "Stammmutter" zu verstehen –, zur Äbtissin eines englischen Klosters. Marie definiert durch ihr Selbstverständnis das Verhältnis von Frau, Macht und Religion in ihrem Umfeld neu. Diese Figur wäre auch der Kirche heute eine Hilfe... (Claassen, 24 Euro) Isabel Lauer © Ullstein/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
CJ Hauser, um es gleich zu Beginn zu klären, ist eine Frau. Irgendwann hieß sie Chrissie, aber so will sie nicht mehr genannt werden. Was sie mit Ende 30 auch nicht mehr will, ist allein sein. Aber wo ist sie, die große Liebe, ob Mann, ob Frau? Genau darüber schreibt die amerikanische Autorin, die sich selbst als queer bezeichnet, in "Die Kranichfrau" - und wie das damals war, als sie, schon verlobt, in letzter Minute doch noch erkannte, dass es mit ihrem Freund nichts wird. Das könnte traurig sein, ist aber hinreißend komisch und sehr klug mit literarischen ("Der Zauberer von Oz") wie popkulturellen Einflüssen (die TV-Serie "Akte X") auf unser Leben verknüpft. (C. H. Beck, 25 Euro) Wolf Ebersberger © Verlag C.H. Beck/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Die Schnittmenge zwischen AC/DC und Lady Gaga, Johnny Cash und Ed Sheeran hat einen Namen: Rick Rubin. Der buddhagleiche Musikproduzent mit Bart hat nun ein Buch verfasst. Es heißt "kreativ. Die Kunst zu sein" (O. W. Barth Verlag, 24 Euro). Das Sachbuch des Promi-Flüsterers ist eine spirituell tänzelnde Hinführung zur Achtsamkeit auch für Nicht-Pop-Stars. Keine heilige Schrift. Aber eine schön leichte Lektüre, die kleine Denkanstöße und Tipps zur kreativeren Lebensführung gibt. Manchmal hilft schon Schuhebinden. Christian Mückl © O. W. Barth/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Die Idee, ausgerechnet einen unscheinbaren Teppichhändler in eine apokalyptische Szenerie zu verfrachten, mag gewagt erscheinen: Simon Strauss schert sich darum nicht und konfrontiert seine namenlose Hauptfigur mit einer nächtlichen Flutkatastrophe, die die Stadt gleichsam wegschwemmt. Immerhin, er muss das nicht alleine überstehen - sondern "Zu zweit", wie schon der Titel der Novelle verrät. Strauss, Sohn des Dramatikers Botho Strauß, übertreibt es mitunter mit seinen permanenten Vergleichen (der Regen ohrfeigt die Dachziegel als wären sie ungehorsame Internatsschüler, der Fluss schlängelt sich durch die Stadt als wolle er Verfolgern entkommen). Gleichwohl bleibt man dran an dieser schmalen Erzählung, die es auch auf die von Kritikern erstellte Bestenliste des SWR geschafft hat. (Tropen, 22 Euro) Marco Puschner © Klett-Cotta/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Eine wunderbare zart-traurige Geschichte hat der Berliner Journalist und Schriftsteller Dirk Gieselmann geschrieben: Der kleine Roman "Der Inselmann" erzählt von einem einsamen Mann, der als Kind seinen Eltern auf eine Insel im See folgt und von dieser Freiheit eines Ausgegrenzten nicht mehr loskommt. Die erzwungene, brutale Erziehung auf dem Festland kann Hans nicht brechen, er bleibt ein sensibler Eigenbrötler, dem die ans Ufer schlagenden Wellen oder das nächtliche Sternenbild mehr erzählen können als eine moderne Gesellschaft, die das wirkliche, einfache Leben nicht mehr kennt. Gieselmanns bemerkenswerte Kunst ist es, dass er davon völlig kitschfrei und doch mit einer flirrenden Sprache der Liebe und Sehnsucht berichten kann. (Kiepenheuer & Witsch, 20 Euro) Bernd Noack © Kiepenheuer & Witsch/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Mit Herrn Aurich fängt es an, das Ende. Herzinfarkt: und schon liegt der treue Funktionär aus der gehobenen Riege der DDR-Führung danieder. Hat aber noch Lebenszeit, den eigenen wie den allgemeinen Zustand im Land zu reflektieren, freilich ohne Erkenntnis, wie sonst? Mit leiser, listiger Ironie schildert Monika Maron in dieser herrlichen, schon 1982 entstandenen Erzählung (da war sie selbst noch drüben), wie sich der Untergang der in die Jahre gekommenen Ordnung im Osten abzeichnet. "Herr Aurich" heißt übrigens Erich. Noch hängt der andere Erich, der "Allerhöchste", lächelnd an der Wand. Aber auch nicht mehr lang. (Hoffmann & Campe, 16 Euro). Wolf Ebersberger © Hoffmann und Campe/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Ein Roman als Graphic Novel: ist meist viel kürzer und, weil auf Bilder konzentriert, auch handlicher. Der US-Klassiker "Von Mäusen und Menschen" aus der Feder John Steinbecks wird mit den liebevollen Zeichnungen der Französin Rébecca Dautremer hingegen zum dicken Doppel-Whopper aufgewertet, in dem jedes literarische Detail seine Entsprechung findet. Das macht die Geschichte von den beiden glücklosen Wanderarbeitern George und Lennie, der geistig zurückgeblieben ist und seine groben Hände nicht unter Kontrolle hat, noch einmal ganz neu und menschlich erfahrbar. Preisverdächtig schön! (Splitter Verlag, 49,80 Euro) Wolf Ebersberger © Splitter Verlag/Pixabay/Graphic Novel; Montage: Sabine Schmid
In "Mary & Claire" begibt sich Markus Orths auf die Spuren der englischen Romantiker - und zeichnet die Geschichte eines Aufbruchs nach. Im Zentrum stehen Mary Godwin (später Shelley), die in London geborene Schöpferin des "Frankenstein"-Mythos, ihre Stiefschwester Claire Clairmont und Percy Shelley, beide ebenfalls Schriftsteller des frühen 19. Jahrhunderts. Orths Roman lebt vor allem vom Gegensatz der beiden weiblichen Hauptfiguren: hier die sensible, vom frühen Tod ihrer im Kindbett gestorbenen Mutter traumatisierte Mary, dort die exaltierte und lebenslustige Claire. Beide aber verlieben sich in Percy. Pech auch für die beiden, dass Marys Vater, der in der Theorie sehr fortschrittliche Sozialphilosoph William Godwin, sich in der Praxis dann doch an gesellschaftliche Konventionen hält. Für das lebenslustige Trio bedeutet das: Wir müssen hier raus! Spannende, unterhaltsame Lektüre. (Hanser, 26 Euro) Marco Puschner © Hanser/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Sie zählen nicht zu den ganz Großen im weltweiten Musikzirkus, doch ihr einziger großer Hit wird immer noch in den Rockdiscos und auf den Classic-Rock-Radiostationen dieses Planeten gespielt. Jetzt nimmt sich ein Buch der britischen Gothic-Ikone an: "Black Planet – Der Aufstieg der Sisters Of Mercy" von Mark Andrews erzählt von Schönheit und Dramatik, Minimalismus und Monotonie, düsterer Sexualität und jenen Tagen, als die Schwestern noch eine richtige Gruppe waren. Gut recherchiert, für Fans geschrieben. Durchbeißen lohnt, wenn man ein Faible für dunkel grundierte Popmusik und/oder das Jahrzehnt (die 80er) hat. (Hannibal, 27 Euro) Stefan Gnad
© Hannibal Verlag/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Eine unglaubliche wahre Geschichte hat sich der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko da vorgenommen, der mit seinem Roman "Die Jagd" vor Jahren schon gar auf der Spiegel-Bestsellerliste landete. Jetzt also "Der Kremulator", und da steckt natürlich einmal das Krematorium drin, dann aber auch unschwer herauszulesen der Kreml. Tatsächlich geht es um Pjotr Nesterenko, einen russischen Hasardeur, geschickt unterwegs in allen Ländern der Welt und Direktor der Institution in Moskau, wo auch Prominente nach dem Tod zu Asche zerfallen. Pjotr weiß zuvie, und in einem wahnwitzigen Verhör in den 1940er Jahren kurz vor seiner eigenen, staatlich angeordneten Ermordung wird dieses funkelnde, zwischen Himmel und Hölle rasende Leben nochmal abgespult. Unsterblichkeit ist halt nur für ganz wenige vorgesehen in Russland. (Diogenes, 25 Euro) Bernd Noack © Diogenes/Pixabay/Montage: Sabine Schmid
Die Beziehungsgeschichte zweier Städte, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch an einem Strang der Moderne zogen. Jens Wietschorkes neue "Wien – Berlin"-Untersuchung, die sich auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentriert, ist ein fundierter und anregender Streifzug durch die Straßen, Salons, Hinterhöfe, Spelunken, Ateliers und Landschaften der beiden Metropolen, die Künstler, Schauspieler und Exzentriker gleichermaßen anzogen und in die Flucht schlugen – komischerweise meist in die jeweils auch geografisch entgegengesetzte Stadt. Hier das kühle, arme und doch irgendwie schon sexy wirkende Berlin, dort das üppige, gemächliche, traditionsbewusste Wien: Man kann auch heute noch lustvoll wechseln zwischen diesen sich anregend widersprechenden Atmosphären, deren historische Entwicklung Wietschorke gut unterhaltend aufdeckt. (Reclam, 26 Euro) Bernd Noack © Reclam/Pixabay/Montage: Sabine Schmid