Großes Unbehagen über virtuelle Finanzgeschäfte

15.06.2012, 05:00 Uhr
Großes Unbehagen über virtuelle Finanzgeschäfte

© dapd

Bevor der stämmige Theologieprofessor mit dem weißen Rauschebart seinen einführenden Vortrag beginnt, platziert er die schwarz-grüne Kappe mit der Aufschrift "Occupy Wall Street“ vor sich auf dem Rednerpult. Doch auch ohne diese Geste wird schnell klar: Craig Nessan, der am Wartburg Theological Seminary in den USA doziert, ist von der Bedeutung der globalen Protestbewegung Occupy überzeugt. Sie habe es geschafft, die "Fusion zwischen globalem Kapitalismus und neoliberaler Demokratie“ zu demaskieren, die den Status der Eliteklasse der Weltwirtschaft auf Kosten der breiten Mehrheit schützt und verbessert.

Ein entscheidender Auslöser für die Bewegung in den USA war nach Nessans Einschätzung, dass sich in den vergangenen Jahren die Lebensbedingungen vieler Menschen stetig verschlechtert haben - und die Existenzangst inzwischen auch vor dem Mittelstand nicht mehr Halt macht. "Es ist kein Zufall, dass Occupy zugleich mit der Aufnahme der amerikanischen Mittelklasse in die Liste der bedrohten Arten entstand“, so der Befreiungstheologe.

Enorme Schulden

Für einen Missstand hält er, dass viele junge Leute in ihr Berufsleben mit enormen Schulden starten - wegen der hohen Studiengebühren. Außerdem habe der Einfluss der Gewerkschaften stark gelitten, die Altersvorsorge und die Krankenversicherung sei für viele immer schlechter geworden.

Diese Entwicklung werde von vielen als ungerecht wahrgenommen - nicht nur in den USA, sondern weltweit. Deshalb schlugen einige Wochen nach der Initialzündung in New York beispielsweise auch in Frankfurt Protestierer ihre Zelte vor der Europäischen Zentralbank auf. Derzeit verhandeln sie mit der Stadtverwaltung, ob sie ihr Protestlager auch nach Monaten weiter fortsetzen können.

Müssten sie abziehen, Werner Lang, Geschäftsführer des Spiegelproduzenten Mekra Lang und Vizepräsident der IHK Nürnberg für Mittelfranken, würde sie wohl kaum vermissen. Denn für ihn, den promovierten Maschinenbauingenieur mit einer Vorliebe für Konkretes, ist Occupy eine unstrukturierte Gruppe ohne klare Ziele. Wegen dieses Mankos habe die Bewegung auch keine Bedeutung bei der Suche nach einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, meint Lang.

Dabei ist sich der Chef des fränkischen Familienunternehmens bei der Diagnose des Weltzustandes mit den Occupy-Aktivisten durchaus einig. Auch Lang hält es für "fürchterlich ungerecht, dass sich einige wenige auf Kosten von uns allen bereichern“. Und dass von allem Geld, das auf der Erde zirkuliert, nur noch ein kleiner Teil in der realen Wirtschaft stecke, hält der Unternehmer für eine große Gefahr. Hinter Unsummen des Kapitals stecke keinerlei Wertschöpfung mehr. Wenn aber aus Geld noch mehr Geld gemacht werden sollen, entstehen unweigerlich Blasen, warnt Lang.

Strukturen verstehen

Die Diskrepanz zwischen der Realität und dem, was er für gerecht hält, ist es, was Tobias Rohlederer antreibt. Der Student der Wirtschaftswissenschaften engagiert sich in der Kampagne "Aufbruch für Gerechtigkeit“ der Evangelischen Landjugend Bayern. Die soll nicht zuletzt ökonomisches Wissen vermitteln, um intransparente Strukturen besser verstehen zu können - und ist Rohlederers Meinung nach damit wesentlich konkreter als Occupy.

Ein Irrglaube, wie Hajo Köhn meint. Denn er habe mit Occupy Money innerhalb der Occupy Bewegung eine Gruppe gegründet, die sich mit sehr handfesten Forderungen beschäftigt. So wollen Köhn und seine Mitstreiter eine Mauer zwischen herkömmlichen Geschäftsbanken und Investmentbanken hochziehen, um riskante Spekulationen vom Geschäft mit Privat- und Firmenkunden zu trennen.

Außerdem halten sie eine verfassungsrechtliche Prüfung der Finanzregelungen für nötig, die es den Kreditinstituten derzeit erlauben, selbst Geld zu schöpfen, so Köhn. Harald Karl, als Nürnberger Regionaldirektor der Evangelischen Kreditgenossenschaft Kassel (EKK) Mitglied der viel gescholtenen Finanzbranche, sträubt sich unterdessen nicht gegen schärfere Vorschriften. Im Gegenteil: "Die Deregulierung der Märkte muss zurückgedreht werden“, ist der Genossenschaftbanker überzeugt und gibt sich zuversichtlich: Die Gesellschaft sei durchaus in der Lage, die Macht der ungezügelten Gier einzugrenzen.

Todesstrafe tabu

Das kann schon im Kleinen beginnen, zum Beispiel bei der Geldanlage. So kauft die EKK für ihre Eigenanlage laut Karl keine Wertpapiere von Staaten, in denen die Todesstrafe praktiziert wird. Tabu sind auch Länder, in denen Korruption stark verbreitet ist.

Selbst ohne konkrete Aussagen hält Karl die Occupy Bewegung für wichtig. Denn sie bringe eine dringend nötige Diskussion in Gang. "Manchmal ist es nicht schlecht, wenn jemand einfach Missstände herausschreit“, sagt der Banker. Und damit ist er sich auch mit dem Befreiungstheologen Nessan einig, der in Occupy ein Hoffnungszeichen für die Zukunft sieht. Allerdings müsse der Widerstand absolut gewaltfrei ablaufen, mahnt Nessan.