Charakterköpfe stehen Spalier

5.6.2013, 00:00 Uhr
Charakterköpfe stehen Spalier

© Weigert

Eitelkeit ist großen Geistern meist nicht fremd. Johann Gottfried Herder, Dichter und Denker der Weimarer Klassik zum Beispiel, haderte mit seinem schütteren Haupthaar. An Maßnahmen wie Haarverdichtung war im 18. Jahrhundert noch nicht zu denken. Dafür gab es aber auch keine Live-Bilder der Prominenten. Man ließ sich malen, zeichnen oder in Büsten abbilden. Wobei sich schon damals die Frage stellte: Soll der Künstler dabei der Natur nachhelfen oder sie schonungslos zeigen?

Die Nürnberger Ausstellung konzentriert sich ausschließlich auf Bildnisbüsten und auf die Jahrzehnte zwischen 1770 und 1800, in denen dieser Richtungsstreit ausgefochten wurde. „Eine sehr spannende Zeit“, sagt Matthias Kammel, der die interessante Ausstellung mit vielen wertvollen Leihgaben eingerichtet und den Katalog zu den bislang weitgehend unerforschten Bildnisbüsten der Aufklärung herausgegeben hat.

Das zuvor ziemlich stiefmütterlich behandelte Genre kommt damals in Mode. Es wird schick, sich zuhause mit starken Köpfen — seien es Freunde, Vorbilder oder Regenten — zu umgeben. Gleichzeitig kursierten allerlei Theorien, wie in Gesichtern zu lesen sei und was sich aus der Physiognomie an Charaktereigenschaften ableiten lässt — manchmal auch ziemlich Kurioses wie in den berühmten Grimassen-Köpfen von Franz Xaver Messerschmidt. Er zeigt einen „maßlosen Quitten- und Knödelfresser“ mit den Folgen seiner Disziplinlosigkeit: „Ein mit Verstopfung Behafteter“ lautet der sprechende Titel.

140 Köpfe in Wachs, Terrakotta, Marmor, Alabaster, Porzellan, Bronze, Holz, Blei oder Pappmaché: Was zunächst trotz der Materialvielfalt dicht gedrängt auf kleinem Raum doch etwas gleichförmig wirkt, entpuppt sich bei genauem Hinsehen — und unter fachkundiger Führung — als ausgesprochen facettenreich. Man blickt in die Gesichter von alten Herren und Wunderkindern, Adligen und Bürgerlichen, Forschern und Musikern. Und man beginnt sich einzusehen, vergleicht zwischen den lebensnahen Bildnissen mit Tränensäcken und eingefallenen Wangen und den weihevoll idealisierten Heldenporträts mit Lorbeerkranz und Toga.

Eine ganz große Besonderheit ist das jüngste Stück: Ein Zimmerdenkmal von 1816. In einem Holzschränkchen mit abnehmbarem Deckel liegt die weiße Marmorbüste einer jung verstorbenen Frau. Ihr Kopf ruht auf einem Kissen. Diese Figur aus Privatbesitz wird erstmals gezeigt und könnte, so Kammel, erhellende Erkenntnisse zu ähnlichen Liege-Köpfen liefern. Man vermutet, dass auch sie für hölzerne Möbel geschaffen wurden, die nicht überdauert haben.

Die Toten konnten der Art ihrer Darstellung nicht mehr widersprechen. Die Lebenden taten es mitunter leidenschaftlich. Den guten Herder zum Beispiel konnten auch die Besten nicht zufriedenstellen. Weder Alexander Trippel fand Gnade für seine 1790 geschaffene Büste mit wallenden Locken, noch Gottlieb Martin Klauer für seinen neun Jahre früher entstandenen Gipskopf mit Kurzhaarschnitt. „So sah Herder wohl wirklich aus“, meint Kammel, „aber er war unzufrieden: Zu wenig Haare!“

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