Das tragische Leben des "Sängers von der Not"
16.12.2018, 17:55 UhrAnstoß dazu gibt aber das Leben des Mordechai Gebirtig. Der Name ist verbunden mit der Blüte des jiddischen Liedes Anfang des 20. Jahrhunderts, und zwar nicht nur in Gebirtigs Geburtsstadt Krakau, sondern rund um den Erdball.
Davon hatte der in ärmlichsten Verhältnissen lebende Dichter und Liedermacher allerdings nichts: Er fristete ein wirtschaftlich und räumlich beengtes Dasein mit seiner Familie in einer winzigen Wohnung im jüdischen Stadtteil Kazimierz, aus dem er zeitlebens kaum herauskam. Das Geld für Schallplatten mit seinen Liedern wie "Undzer Shtetl brennt" (Unser Städtchen brennt) oder wochenlang ausverkaufte Konzertabende strichen andere ein.
Gebirtig war ein Selfmade Man. Von Seltmann vergleicht ihn mit Woody Guthrie, Bob Dylan oder Hannes Wader, er war ein "Folksinger, Singer-Songwriter, Liedermacher", schreibt er. Sein Brotberuf war Möbeltischler, von der Arbeit ausgezehrt musste er immer wieder aus gesundheitlichen Gründen zuhause bleiben, was die Not für ihn, seine Frau und die drei Töchter noch größer machte.
Gebirtig konnte keine Noten lesen, aber er spielte Flöte — alle seine Gedichte und Lieder entstanden so. Zeitzeugen berichten, dass der schmächtige Mann mit den warmen Augen auch kein begnadeter Sänger war. Die Art, wie der "Zinger fun noyt", der "Sänger von der Not" seine Lieder sang, fesselte jedoch das Publikum.
1944 erschossen
Den Handwerker zog es schon in jungen Jahren zur Kunst und zur Bühne, auch wenn das Künstler-Dasein den Regeln eines religiösen Daseins, die das Leben im Shtetl prägten, widersprach. Mit Freunden führte er eine jiddische Volksbühne, die große Erfolge feierte.
Er selbst übernahm als 27-Jähriger Hauptrollen, dichtete unablässig und vertonte viele Texte auch. Andere wurden von Zeitgenossen mit Melodien versehen. Rund 80 Lieder veröffentlichte er zu Lebzeiten, nach seiner Erschießung während einer Deportationsaktion der Nazis 1944 und nach Ende des Krieges kamen weitere zum Vorschein. 168 Werke haben die Shoah überlebt.
Am bekanntesten ist wohl "Undzer Shtetl brennt", das er 1938 nach einem Pogrom gegen Juden geschrieben hatte. Dass er damit die noch viel brutaleren Untaten nicht nur an den polnischen Juden ab 1939 vorausahnte, wusste er noch nicht. Das Lied wurde für Exil-Juden in aller Welt zu einer Hymne voller Warnungen.
Von Seltmann hat nicht nur den Lebensweg des bescheidenen Dichters, der immer wieder erfolglos um Tantiemen kämpfte, nachgezeichnet, sondern die historische Situation in Galizien nachgezeichnet: Vom nördlichsten Rand der österreichischen K.u.KMonarchie, in der Juden nahezu die gleichen Rechte genossen wie andere Bürger, zur Provinz Polens, das von Russland im Osten und Deutschland im Westen bedrängt wurde, bis zum deutschen Überfall, der für Juden das Leben dort zur Hölle machte, zeichnet er das Schicksal der Bevölkerung nach.
Von Seltmann hat intensiv recherchiert, weltweit Zeitzeugen und Dokumente aufgespürt sowie viele von Gebirtigs Liedern erstmals ins Deutsche übersetzt — wobei er die jiddische Version immer dazu abdruckt und so einen reichen Eindruck dieser heute praktisch nicht mehr gesprochenen Sprache gibt.
Daraus webt er ein umfassendes Bild, das den Dichter als Arbeiter-Revolutionär im Kampf um menschenwürdige Lebensbedingungen, als feinfühligen Melancholiker, als sprachmächtigen Bewahrer seiner jiddischen Muttersprache und als zähen Kämpfer für die reiche Kultur der jüdischen Bevölkerung zeigt.
Die emsigen jungen Verleger des Homunculus Verlags in Erlangen haben daraus mit gelungener Grafik und unzähligen Bildern und Faksimiles einen wahren Bücher-Schatz gemacht. Mehrmals wurde das Erscheinen des Buches, das auch mit Crowdfunding-Unterstützung zustande kam, verschoben, weil der Autor immer wieder neue Quellen sichten konnte. Entstanden ist ein echtes Fundstück, nicht nur für Klezmer-Liebhaber und Gebirtig-Kenner.
Uwe von Seltmann: Es brennt! Mordechai Gebirtig, Vater des jiddischen Liedes. Homunculus Verlag Erlangen, 400 Seiten, 38 Euro.
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