Der Untergang des Abendlandes

11.1.2016, 11:00 Uhr
Der Untergang des Abendlandes

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Im Abendland droht die Sonne der Vernunft unterzugehen. Stephan Kaußens Streitschrift ist ein Aufruf zur Verwirklichung und Verteidigung der wichtigsten europäischen Wertvorstellungen. Es sind dies die in der Zeit der Aufklärung entwickelten Prinzipien der Geistes-Freiheit, der sozialen Chancen-Gleichheit und der internationalen Solidarität. Für den von der katholischen Soziallehre geprägten Verfasser kommt noch die christliche Tugend der Demut hinzu.

Dass gerade im heutigen Deutschland die besagten Wertvorstellungen nicht besonders populär sind, liegt nach Kaußens Meinung an der derzeitigen „BWLisierung und RTLisierung“ der Gesellschaft. Infolge der Vergötzung von Gewinn und Konsum sowie der Seichtheit vieler Medien-Informationen werden die Menschen immer kurzsichtiger und selbstbezogener. Auf „Störungen“ des Gewohnten reagieren sie mit Angst, Wut, Hass.

Universales Denken

Obwohl demnach die Voraussetzung für massenwirksame intellektuelle Appelle alles andere als günstig scheinen, kämpft Kaußen mit seinem Text für ein universales Denken. Er plädiert mit Leidenschaft für die Erkenntnis und Korrektur historischer Fehler „des Westens“ und für das Bewahren und die Weiterentwicklung fortschrittlicher Ideen aus unserer Vergangenheit. Das wirkliche Verstehen der derzeitigen weltpolitischen Lage erfordert nach seiner Auffassung zunächst einmal den einen oder anderen Blick zurück — weit zurück.

Kaußens Betrachtung beginnt vor über 1600 Jahren, als das römische Reich endgültig in einen westlichen und einen östlichen Teil zerfiel. Das war der Anfang der nach wie vor wirksamen Ost-West-Polarität. Aus West-Rom entstanden viel später diverse Nationalstaaten, die schließlich den Kern der heutigen EU bildeten. Ost-Rom oder Byzanz entwickelte eine ganz eigene spätantike Kultur und eine christlich-orthodoxe Staatsreligion. Diese verbreitete sich durch Missionierung in Russland und in anderen osteuropäischen Ländern und blieb dort geistig prägend, auch nachdem der byzantinische Staat 1453 von den muslimischen Osmanen erobert worden war. Das osmanische Reich existiert ebenfalls seit fast hundert Jahren nicht mehr. Geblieben ist der Ost-West-Bruch.

Für den „Westen“ waren und sind die Völker im Osten, „die Türken“, „die Araber“, „die Russen“, „die Slawen“ die Anderen, die Fremden, die Unverständlichen geblieben. Dass die Griechen, das einzige christlich-orthodoxe Volk unter der EU-Gründungsmitgliedern nach westlichen Kriterien ebenfalls immer noch fremd erscheinen, wissen wir spätestens seit der sogenannten Griechenland-Krise. Und die nach 1990 erfolgte EU-Erweiterung in östliche Richtung schien zwar aus westlicher Sicht politisch geboten, erzeugte jedoch bei nicht wenigen Menschen in den Kern-Staaten ein anhaltendes Unbehagen. Allzu ungewohnt ist die Mentalität mancher neuen „Freunde“.

Für die richtigen Westler unter der Führung der USA sind der Balkan sowie der Nahe Osten lediglich Einfluss-Sphären, in denen sie aus-schließlich ihre eigenen Interessen wahrnehmen und mit allen Mitteln, nicht zuletzt militärischen, durchsetzen. Ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Rücksicht auf die bei näherer Betrachtung allemal verständlichen Umzingelungs-Ängste Russlands, das sich heute weniger als der Erbe der Sowjetunion sieht, sondern vor allem als der Erbe von Byzanz.

Westliche Eingriffe

Die vom Westen systematisch betriebenen Eingriffe in die politische Verfassung diverser Länder des Vorderen Orients schufen den islamisch maskierten Terror und die Flüchtlings-Trecks aus Syrien und aus dem Irak, mit denen wir jetzt auch hierzulande zu tun haben.

Stephan Kaußen beklagt, dass solche Zusammenhänge vielen seiner Landsleute kaum bewusst sind. In seinem vorliegenden Text ruft der offenbar unheilbare Idealist dazu auf, die großen Krisen der Gegenwart einmal anders, aus der Sicht der „Anderen“ zu betrachten. Das könnte, so hofft er, ein verändertes Denken in Gang setzen und ein verändertes, von Respekt, Großzügigkeit und Verständnis geleitetes Verhalten. Damit die derzeitigen weltpolitischen Vorgänge nicht mit dem Untergang des Abendlandes enden, sondern mit einem Europa, das wieder der Hort der ehrwürdigsten Menschheits-Ideale ist.

Stephan Kaußen: Europas Zeitenwende. Strukturelle Macht als Bumerang des Westens. canim Verlag, Nürnberg. 116 Seiten, 11,95 Euro

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