"Dafür sind die Leute nicht bereit"

Ein Selbstbild in der Krise: Ist die deutsche Erinnerungskultur gescheitert?

Verena Gerbeth

nordbayern.de

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20.6.2024, 13:11 Uhr
"Born - Eine Quellenarbeit" thematisiert den Aufstieg des Fürther Quelle-Gründers und NSDAP-Mitglieds Gustav Schickedanz. Die Installation von Regisseurin Katharina Schmitt beleuchtet die Geschichte des Versandhandels Quelle, dessen Erfolg sich nicht zuletzt auf die sogenannte Arisierung jüdischer Betriebe und Grundstücke zurückführen lässt. Ausgelegte Kataloge aus sechs Nachkriegs-Jahrzehnten sollen das Verdrängen durch Konsum verdeutlichen. Die Installation wurde im Zuge des Festivals "Import/Export-Wochenende: Erinnern" im Ausstellungsraum der Kongresshalle gezeigt: Der Ort, an dem sich das Quelle-Warenlager befand.

© Maja Wenker "Born - Eine Quellenarbeit" thematisiert den Aufstieg des Fürther Quelle-Gründers und NSDAP-Mitglieds Gustav Schickedanz. Die Installation von Regisseurin Katharina Schmitt beleuchtet die Geschichte des Versandhandels Quelle, dessen Erfolg sich nicht zuletzt auf die sogenannte Arisierung jüdischer Betriebe und Grundstücke zurückführen lässt. Ausgelegte Kataloge aus sechs Nachkriegs-Jahrzehnten sollen das Verdrängen durch Konsum verdeutlichen. Die Installation wurde im Zuge des Festivals "Import/Export-Wochenende: Erinnern" im Ausstellungsraum der Kongresshalle gezeigt: Der Ort, an dem sich das Quelle-Warenlager befand.

Herr Czollek, ein Großteil der Verbrechen der Nationalsozialisten blieb ungesühnt, ihr Handeln in weiten Teilen ohne strafrechtliche Konsequenzen. Sie plädieren für eine Erinnerungskultur, die auch an das erinnert, was nicht dokumentiert ist. Warum gerade jetzt?

Max Czollek: Wir laufen gerade auf eine Art Epochenschwelle zu, in der die Zeitzeug*innen sterben. Sowohl diejenigen, die die Schoa als Verfolgte erlebt haben, als auch diejenigen, die direkt dafür verantwortlich waren. Und das hat eine Aktivität in Gang gesetzt zur Frage: Wie funktioniert Erinnern, nachdem die Menschen tot sind, die diese Erinnerung in sich getragen haben?

Eine Frage, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts vermehrt diskutiert wird. Welche Ansätze stellen Sie mittlerweile fest?

Czollek: Eine der Antworten scheint mir ein vermehrter Fokus auf Dokumente und Archive zu sein. Das überhöht diese vielleicht sogar zu den Trägerinnen der Geschichte selbst. Hier setzt die Arbeit an der Frage ein: Wenn das Archiv unser Ausgangspunkt ist, was machen wir mit all den Dingen, die nie passiert sind? Es handelt sich dabei um einen riesigen Korpus, 99 Prozent der Prozesse gegen Nazis, die hätten stattfinden sollen, haben niemals stattgefunden. Wie erzählen wir davon?

Max Czollek, geboren 1987, ist Schriftsteller und engagiert sich für eine plurale Erinnerungskultur.

Max Czollek, geboren 1987, ist Schriftsteller und engagiert sich für eine plurale Erinnerungskultur. © Björn Kuhligk

Und wie erzählen wir davon?

Czollek: Darauf gibt es wohl viele Antworten. Denn es gibt nicht die eine Lösung, wie man von der Schoa erzählt oder von der rechten Gewalt, die danach weiter existiert hat. Und mir scheint es ist wichtig, den Fokus auch auf das Unsichtbare zu setzen: die unterlassene Hilfeleistung, die Nichtverurteilung von Menschen, die Nichtverantwortungsübernahme durch die deutsche Gesellschaft nach 1945. Das sind alles Dinge, die meiner Meinung nach Teil einer Erinnerungskultur sein sollten. Ich würde das als post-dokumentarischen Ansatz bezeichnen.

Anfang des Jahres gingen Hunderttausende gegen Rechts auf die Straßen. Ein Skandal nach dem nächsten jagte die AfD durch einen chaotischen Wahlkampf. Nun ist die AfD zweitstärkste Kraft in Deutschland. Was läuft schief?

Czollek: Die Frage suggeriert ja schon, dass diese Demonstrationen möglicherweise eine effektive Bekämpfung der AfD bedeuteten. Dieser Glaube hat mehr mit unserer Erinnerungskultur zu tun als wir denken mögen. Die Vorstellung nämlich: Wenn wir nur oft genug sagen, dass wir gut aufgearbeitet haben, dann wird sich die gute Aufarbeitung einstellen. Nur weil wir sagen, dass wir ein "Nie wieder" wollen, heißt das nicht, dass ein entsprechender Umbau dieses Landes stattgefunden hat, was die Kontinuitäten rechten Denkens, rechter Gewalt und rechter Strukturen nach 1945 belegen. Das lässt sich doch auch für unsere Gegenwart nachvollziehen, in der die Demonstrationen Anfang 2024 völlig folgenlos geblieben sind auf der politischen Ebene – frappierend folgenlos. Das verweist auf ein Problem mit einer deutschen Erinnerungskultur, die sich bislang auf symbolischer Ebene abgespielt hat und bis heute abspielt. In der Idee, dass ein Denkmal die reale Handlung ersetzen könnte – oder bereits die reale Handlung sei.

Sie sprechen in Zusammenhang mit den Demonstrationen auch von der "Hoffnung auf Wiedergutwerdung".

Czollek: Diese großen Demos waren wirklich überraschend in ihrer Intensität und Heftigkeit. Meine Sorge ist, dass es sich hierbei um eine Selbstbeschwörung handelt. Die AfD ist zweitstärkste Kraft, weil irgendetwas an der Aufarbeitung nicht funktioniert hat. Und da können wir noch hundertmal auf die Straße gehen, wir haben es die letzten Jahrzehnte offensichtlich nicht geschafft, das zu verhindern. Das bedeutet eine Krise für ein deutsches Selbstbild, das seine Normalisierung aus der eigenen Aufarbeitung schöpft. Es reicht offensichtlich nicht, eine gute Geschichte zu erzählen, ein paar Denkmäler zu bauen, Museen einzurichten und dann zu denken, die Realität wird sich schon entsprechend formen. Für diese Krise sind die Leute nicht bereit. Anstatt anzuerkennen, dass gerade etwas vor unseren Augen scheitert, bauen wir noch ein Denkmal und noch eins und noch eins. Dieses Scheitern müsste der Ausgangspunkt sein, um über ein besseres Kapitel von Erinnerungskultur nachzudenken.

Sie sind Vertreter der pluralen Erinnerungskultur. Doch die wurde in den vergangenen Monaten im Zuge Claudia Roths Gedenkstättenkonzepts hitzig debattiert. Die Gedenkstätten kritisierten das Dokument scharf: Sie befürchteten fehlende Mittel und eine Relativierung der Schoa. Wie stehen Sie dazu?

Czollek: Ich finde die finanzielle Seite nachvollziehbar, das ist ein wichtiges Argument. Zugleich steht außer Frage, dass die Schoa bereits als eine plurale Erinnerung erzählt wird. In den Museen wird von Menschen aus unterschiedlichen Ländern, mit unterschiedlichen Beziehungen zum Judentum und auch von anderen Opfergruppen erzählt. Da finde ich das Argument der Kritiker*innen einer Relativierung der Schoa durch die Forderung einer pluralen Erinnerungskultur einfach nicht überzeugend. Die Gedenkstättenkonzepte beinhalten schon jetzt die SED-Verbrechen. Da sagt keiner, dass damit die Schoa verharmlost wird. Ich verstehe auch logisch nicht, warum eine Erinnerung an den Kolonialismus diese Verharmlosung dann erzeugen sollte. Da sind die Kritiker*innen ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen.

Wenn man in Nürnberg "Erinnerungskultur" sagt, denkt man an Denkmäler wie die für die NSU-Opfer, aber vor allem auch an Institutionen wie das Memorium Nürnberger Prozesse, an das Doku-Zentrum Reichsparteitagsgelände - etablierte Orte der Aufklärung und Auseinandersetzung mit der NS-Gewalt. Fehlt dort etwas?

Czollek: Es sind Orte des Erinnerns. Bei diesen Orten handelt sich um Versuche, sich zu vergegenwärtigen, was damals geschehen ist. Und damit auch, was in der Gegenwart auf dem Spiel steht. Ich will solche Orte nicht gegen andere Formen der aktiven, widerständigen Erinnerungspraxis ausspielen. Dennoch lohnt es sich, im Sinne einer pluralen Erinnerungskultur auch einmal Abstand zu nehmen von dieser deutsch-deutschen Generationenerzählung, in der die Nazi-Eltern von ihren Kindern 1968 konfrontiert werden und der große Paradigmenwechsel zur Normalisierung des gut gewordenen und wieder vereinigten Deutschlands ab 1989/1990 stattfindet. Bis hin zur WM 2006, als die Kindeskinder dann wieder stolz die Fahne herausholen können. Das ist eine sehr beschränkte Idee davon, wer die Akteur*innen des Erinnerns waren und auch heute sind. Das wird klar, wenn wir uns die real existierende Diversität dieser Gesellschaft, aber auch die unterschiedlichen Opfergruppen vor Augen führen, die bis heute von den Kontinuitäten rechter Gewalt betroffen sind. Ich würde dafür plädieren, deren aktive Widerständigkeit als überaus wertvolle Beiträge zu einer deutschen Erinnerungskultur ernst zu nehmen. Oder wie die Initiative in Hanau es formuliert: "Erinnern heißt verändern."

Wie hat der 7. Oktober und der darauffolgende Krieg die Erinnerungskultur ihrer Meinung nach geprägt?

Czollek: Das bereits Angesprochene gilt doch insbesondere für eine Zeit nach dem 7. Oktober, in der pauschal der Verdacht im Raum steht, bestimmte Bevölkerungsgruppen hätten die Lektionen der deutschen Erinnerungskultur nicht gelernt. Das, was wir heute Erinnerungskultur nennen, ist bereits das Ergebnis der antifaschistischen Erinnerungsarbeit von Juden*Jüdinnen, Gastarbeiter*innen, Sinti*ze und Rom*nja - diese Geschichte etwa für die Gastarbeiter*innen zu unterschlagen, kommt einer Enteignung von Teilhabe gleich. Sicherlich ist diese Enteignung Ausdruck eines deutschen nationalen Selbstverständnisses, wie es sich auch im Integrationsdenken oder der Frage "Wo kommst du eigentlich her?" spiegelt. Aber es geht an den Realitäten der pluralen Demokratie vorbei und trägt zu ihrer Schwächung bei.

Inwiefern?

Czollek: Ganzen Bevölkerungsgruppen wird kommuniziert, dass sie nicht dazugehören. Und wer nicht dazugehört, übernimmt auch keine Verantwortung. Das ist in Zeiten, in denen eine völkische Partei zweitstärkste Kraft in Deutschland ist, eine völlig inakzeptable und fast schon lächerlich fahrlässige Situation.