Franke schmiedete Arien-Verse für Bach
23.2.2018, 17:00 UhrWeil es nach wie vor kaum Dokumente von Bachs eigener Hand gibt, die uns etwas Authentisches über ihn als Menschen vermitteln, geht man im Leipziger Bach-Archiv seit ein paar Jahren einem neuen Forschungsansatz nach: Man untersucht die hinterlassenen Materialien von den namentlich bekannten 125 Privat-Schülern Bachs. Ausgewertet werden also Musikalien, Briefe und andere Archivalien, die sich in rund 200 Archiven und Bibliotheken in zehn mittel- und osteuropäischen Länder befinden.
Im Rahmen dieser Recherche stieß Christine Blanken in der Nürnberger Stadtbibliothek auf ein Buch mit dem blumigen Barocktitel "Gott-geheiligte Sabbaths-Zehnden". Dahinter verbarg sich nicht anderes als eine üppige Sammlung mit Texten für geistliche Kantaten "auf alle Hohen Fest-Sonn- und Feier-Tage", die der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Hersbruck gewidmet ist. Ihr Autor: Christoph Birkmann (1703-1771).
Der wuchs als Waisenkind auf, erhielt aber dennoch eine gute, auch musikalische und literarische Ausbildung und ging 1724 zum Mathematikstudium nach Leipzig. Hier traf er auf den 39-jährigen Johann Sebastian Bach, der ein Jahr zuvor vom Hofkapellmeisteramt am Hof in Köthen auf den Posten des Thomaskantors gewechselt war. Bach arbeitete gerade an seinen Jahreszyklus mit Choralkantaten und brauchte also Dichter, die ihm Woche für Woche poetische Arien- und Rezitativtexte verfertigten.
"Dass Birkmann ein mathematischer Geist war, kann man übrigens auch in seinen Texten erkennen", berichtet Christine Blanken, die selbst mit einem Mathematiker verheiratet ist. So gibt er in der Kantate "Leichtgesinnte Flattergeister" in der Arie "Der schädlichen Dornen" quasi beiläufig eine Definition für algebraische Unendlichkeit. Besonders bedeutsam ist, dass man jetzt endlich den Dichter der wichtigen Solo-Kantaten "Ich habe genug" (BWV 56) und "Ich will den Kreuzstab gerne tragen" (BWV 82) kennt. Da steht in den allermeisten Bach-Biographien und CD-Booklets noch: "Dichter unbekannt".
"Komm, o Tod"
Letztere Kantate erhielt eine ganz besondere Popularität: Sie schließt mit dem Choral "Komm, o Tod, Du Schlafes Bruder". In Robert Schneiders auch verfilmten Roman "Schlafes Bruder" improvisiert der Protagonist Johannes Elias Alder hierüber an der Orgel und fasst dabei den Entschluss, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Der Mediziner, Musiker und Musikwissenschaftler Albert Schweitzer, der 1908 eine später mehrfach überarbeitete Monographie über Bach verfasste, zählt die "Kreuzstab"-Kantate zum "Herrlichsten, was Bachs Vermächtnis an uns birgt".
Dass Christine Blanken nun den Autor dieses Textes fand, "nimmt Bach zwar etwas Glanz, aber es bleibt noch genügend übrig", findet die 51-jährige Wissenschaftlerin. "Es ist wichtig zu sehen, dass sein Geist auch durch die richtigen Texte inspiriert werden musste."
Birkmann ging ohne einen Universitätsabschluss 1727 wieder nach Nürnberg und wurde hier Pfarrer und später sogar "Senior" (also geschäftsführender Geistlicher) an der Egidienkirche. Seine Bewunderung für Bach gab er übrigens weiter. Er sorgte dafür, dass der Spezereienhändler Leonhard Scholz 1766 Organist an der Egidienkirche wurde. Später ging der Musiker in selber Funktion an die Lorenz- und dann an die Sebalduskirche.
Christine Blanken bezeichnet Scholz, der 1720 in Nürnberg geboren wurde und hier 1798 auch starb, als "den größten Bach-Freak des 18. Jahrhunderts". Er sammelte alles, was er von und über Bach ergattern konnte. So er trug die größte private Tastenmusik-Sammlung des 18. Jahrhunderts zusammen, hauptsächlich mit Werken Johann Sebastian Bachs und dessen Sohns Carl Philipp Emanuel.
Blankens Fund der Birkmann-Verse liefert — da ist sich die Musikwissenschaft ziemlich einig — die wichtigsten Neuerkenntnisse zur Urheberschaft von Bachs Kantatentexten seit mehr als vierzig Jahren. So gratuliert die Telemann-Gesellschaft auf ihrer Facebook-Seite: "Herzlichen Glückwunsch Dr. Christine Blanken zu diesem Sensationsfund!"
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