Höllentrip durch die moderne Welt

16.1.2006, 00:00 Uhr
Höllentrip durch die moderne Welt

Mit einer wüsten Revue der von ihren eitlen Begierden angetriebenen Konsumjunkies eröffnete der kanadische Choreograf André Gingras seine Tanztheaterproduktion «Nel foco che gli affina - Reiningende Feuer“, die jetzt im Nürnberger Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Suff und Anmache auf dem Dancefloor, böse Blicke und modische Posen, während Sergiu Matis die Vorzüge von käuflichem Sex anpreist. Das betäubende Durcheinander, das sich auf der spartanisch eingerichteten Bühne abspielt (der Holländer Pink Steenvoorden schuf mit der Beschränkung auf hohe Podeste und zwei Strickleitern einen gelungenen Kontrast), kommt immerhin der Realität ziemlich nahe. Wirklich spannend ist es jedoch nicht, wenn einem das allzu Bekannte im grellen Zerrspiegel vorgeführt wird.

Entmenschlichte Welt

Doch für Gingras ist dies nur das wild vertanzte Entree in den Bereich, wo die Hölle wirklich beginnt. Sein von Dantes «Göttlicher Komödie“ inspiriertes Stück bezieht sich im Titel zwar auf den «Läuterungsberg“, das eigentliche Thema aber ist die Vorstufe, das «Inferno“, das Gingras ins Diesseits überträgt, in die entmenschlichte Welt der Großstädte, wo die Angst viele Gesichter hat.

Noch kann man heftig schmunzeln über die «American Beauty“ im pinkfarbenen Overall, die davon erzählt, wie sich ihr Traum in einen Albtraum verwandelte. Doch bald geht es in die tieferen Schichten der leidenden Seele, beginnt ein Höllentrip, der an Urängste rührt. Natürlich denkt man sofort an Abu Ghureib, wenn einer sich einen Sack über den Kopf stülpt und mit nacktem Oberkörper niederkniet. Doch die nachhaltigsten Bilder gelingen Gingras und seinen Tänzerinnen und Tänzern, die viel von sich selbst in dieses Höllenstück eingebracht haben, wenn sich der Blick nach innen wendet. In der eindringlichsten Szene rollt Ai Mochida ihren erstarrten Körper in qualvoller, atemberaubender Langsamkeit vom dreistufigen Podest im Hintergrund bis zur Bühnenrampe vor, schreit vor Schmerz auf (was leicht peinlich sein könnte, sorgt für zusätzliche Intensität) und macht die Qual menschlichen Leidens fast körperlich spürbar.

Es sind solche intimen Szenen, begleitet von einem knisternden Soundtrack (Jürgen De Blonde schrieb für Gingras eine flexible Musikcollage), die unter die Haut gehen. Ein Pas de deux von Leonardo Rodrigues und Ai Mochida gelingt virtuos in seiner traumatischen Ambivalenz zwischen Stärke und Schwäche, stützendem Halt und Gewalt. Dass man das Tragische auch sinnvoll ins Komische wenden kann, zeigt ein irrwitziger Monolog von Maria Walser, die zwanghaft repetierend darstellt, wie es ist, wenn man sich seiner Identität plötzlich nicht mehr sicher sein kann.

Doch hat Gingras in sein gut einstündiges Stück zu viele Höllensplitter gepackt. Etliche Schrecken werden angerissen und gleich wieder abgehakt. Wenn die durchgeknallte Spaßgesellschaft den Außenseiter brutal überwältigt, wird daraus vor allem ein irrer Kostümspuk. Ausgiebig darf dafür Moritz Ostruschnjak seine allerdings wirklich tollen Breakdance-Künste vorführen, für die er vom Publikum Szenenapplaus erhält, während ihm sein cooles Gegenüber nur höhnische Anerkennung zollt.

Stark ist Gingras’ Höllentrip in den stillen Momenten, doch offenbar mochte der Kanadier allein darauf nicht vertrauen. Und wahrscheinlich trifft das Grelle den Zeitgeist doch am besten. Das Ensemble von Daniela Kurz, dem auch in der Neuformation der Spartensprung zwischen Tanz, Theater und Gesang souverän gelingt, dürfte auch körperlich bis an den Rand der Hölle gegangen sein: Hut ab vor diesem sich bis zum letzten verausgabenden Tanzkörper, der mit begeistertem Applaus belohnt wurde. REGINA URBAN

Nächste Aufführungen: 23., 25. und 29. Januar; 3. und 11. Februar, Karten-Tel.: 09 11/ 216 22 98.