Kindheit zwischen Ost und West

9.11.2012, 00:00 Uhr
Kindheit zwischen Ost und West

 „Ich bin mitgegangen worden.“ Dieser Satz von Johannes Honigmann zeigt wie unter einem Brennglas die ganze abstruse Situation der Kinder von DDR-Dissidenten. Deutschland Ende der 1970er-Jahre: Künstler, Musiker und Schriftsteller mussten im Gefolge der Ausbürgerung von Wolf Biermann die DDR verlassen – und ihre Kinder mussten mit. Sie wurden nicht gefragt, einfach herausgerissen aus ihrem gewohnten Leben. „Mitgegangen worden“ von einer Welt in die andere.

Lange hat es gedauert, bis die damaligen Kinder ihre Geschichte schreiben konnten. Die Geschwister Anna und Susanne Schädlich haben in der Anthologie „Ein Spaziergang war es nicht“ die Erinnerungen dieser zerrissenen Generation gesammelt. Eindrucksvoll zeigen diese Rückblicke mit den Augen der Kinder die damalige Realität im eingemauerten Teil Deutschlands. Der Bruch in den Biografien ist wörtlich zu nehmen. Immer wieder kommt in den Erzählungen die Ambivalenz zwischen Verlassensein und Anfang vor, Trauer und Freude.

Das Beispiel Johannes Honigmann: Seine jüdische Familie durfte als Gegenleistung der DDR für den Milliardenkredit des Franz Josef Strauß 1984 ausreisen. Für den kaum Zehnjährigen war die Ankunft im Westen der Beginn einer wunderbaren Zeit: Gierig verschlang der Junge die lange entbehrten Micky-Maus-Comics. Er verbindet damit eine Zeit, „die ich als fröhlich und unbeschwert in Erinnerung habe. Die Beklemmung und die Hemmungen kamen erst später“.

Zwischen den Welten fühlte sich Tobias Schollack wohl. Er genoss nach der Übersiedlung seiner Eltern nach West-Berlin das Privileg, als Kind ungehindert zwischen West und Ost hin- und herreisen zu können. Mit den begehrten Bravo-Heften für die Freunde im Gepäck. Von der bunten Westwelt, durch das kafkaesk-klaustrophobische Kabinen-Labyrinth des Bahnhofs Friedrichstraße in die graue Ostwelt – aber mit Rückfahrschein. „Und langsam wurde es interessant, zu merken, wie man innerhalb eines Tages auf kurzer Entfernung so anders leben kann“, schreibt er. Dieser einzige Satz sagt mehr, als ein Dutzend politische Reden.

Sie haben alle gelitten unter der Trennung von Freunden, Nachbarn und Verwandten: Julia Franck, Biermann-Sohn Eliyah (früher Felix) Havemann, Nadja Klier, Moritz Schleime und Moritz Stephan Krawczyk. Doch das düsterste Kapitel war, dass der hilfsbereite Freund der Eltern — er bewahrte für die Verfolgten verbotene Schriften auf, damit sie bei Hausdurchsuchungen sicher (!) waren —, dass der Ansprechpartner für alle Lebenslagen oder sogar der Rechtsanwalt ein Stasi-Spitzel war.

Neben allen persönlichen und menschlichen Eindrücken bietet diese lesenswerte Essay-Sammlung vor allem eines: einen so noch nie erlebten Einblick in das perverse System des zweiten deutschen Staates, wo Familien nur wegen einer Unterschrift oder eines Gedichtes gehen mussten, die Kinder dann wieder zu Besuch kommen durften — nicht aber die Eltern. Diese absurde Welt und gebrochene Kindheit wirkt bis heute nach. Das Buch zeigt das große deutsche Drama im ganz Kleinen. Ganz eindrucksvoll, eindringlich – sehr oft auch erschütternd. Wie es damals war, im zerrissenen Deutschland.

Anna Schädlich/Susanne Schädlich „Ein Spaziergang war es nicht – Kindheiten zwischen Ost und West“, Heyne-Verlag, München, 322 Seiten, 20,60 Euro.

 

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