Dokumentarische Inszenierung im Memorium
"Saal 600: Spurensuche" - Staatstheater Nürnberg frischt Erinnerung an Nazi-Verbrechen auf
27.9.2021, 05:55 UhrAm Ende gibt es an diesem Abend wohl kaum jemanden unter den Zuschauern im Saal 600 des Nürnberger Justizgebäudes, der nicht an Enver Şimşek denkt, das erste Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Gerade ist über eine Leinwand die Endlos-Liste faschistischer Parteien und Organisationen gelaufen, die es seit 1945 in Deutschland gab und gibt: vom „Werwolf-Freischärler-Kommando“ über „Stahlhelm e.V.“ oder die „Deutsche Heidnische Front“ bis aktuell hin zu „Pegida“ oder die „Sturmbrigade 44“.
Gerade auch sind die fünf Schauspieler aus ihren Rollen gefallen und haben erzählt von ganz persönlichen Erfahrungen in ihren Familien, bei denen sich im Keller noch Hitler-Bilder fanden oder wo das Schweigen über die Zeit von ’33 bis ’45 Gebot war. Und obwohl es bis dahin neunzig Minuten lang um diesen Raum und die Kriegsverbrecherprozesse, die hier stattfanden, ging, ist die Gegenwart plötzlich so präsent. Der erste NSU-Mord in der ehemaligen „Stadt der Reichsparteitage“ wird als Fortsetzung einer Gesinnung bewusst, die auch das internationale Tribunal nicht auslöschen konnte.
Es ist ein Verdienst der beiden Dokumentartheatermacher Regina Dura und Hans-Werner Kroesinger, dass ihr Stück „Saal 600: Spurensuche“ nicht in der musealen Dokumentation stecken bleibt, sondern dass es eine Brücke schlägt von den Ereignissen, die hier 1945 stattfanden, zu den Gefahren, die von nationalistischen, antidemokratischen und rassistischen Bestrebungen unserer Zeit ausgehen.
Wenn damals die Hoffnung geäußert wurde, dass die Zivilisation wieder Einzug hält ins geschundene Land, dann ist das, was die vier Siegermächte zu Sprache und Anklage brachten, heute mehr als nur historisches Material. Das Stück des Nürnberger Staatstheaters (eine Koproduktion mit dem Memorium Nürnberger Prozesse und mit den Nürnberger Nachrichten als Medienpartner) kann nun als gelungener Versuch bezeichnet werden, da anzuknüpfen, wo sich die Stadt wirklich darum bemüht, die Orte der Täter als Mahnung sprechen zu lassen.
Nicht Rache, sondern Recht
Der Saal 600 steht wie kein zweiter dafür, die Kehrseite des kurzen „Tausendjährigen Reiches“ öffentlich zu machen und zu ächten: Hier fand 1945 der erste Kriegsverbrecherprozess statt, in dem 21 ehemalige Nazi-Größen (andere hatten sich durch Selbstmord bereits der Verantwortung entzogen) vor allem wegen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit von einem Alliierten-Gericht angeklagt und verurteilt wurden. Nicht Rache sollte geübt, vielmehr Recht gesprochen werden.
Als „Memorium“ erinnert der Saal jetzt mit Ausstellungen und Dokumentationen an die Prozesse, wird die aktuelle Diskussion über das Völkerrecht fortgeführt. Auch dies war bis vor kurzem noch ein Ort, an dem täglich über Gewalttaten verhandelt wurde: Die Angeklagten kamen aus dem Aufzug aus der angegliederten Vollzugsanstalt direkt an die Anklagebank, wie seinerzeit Göring oder Frank, Streicher oder Hess.
Der Raum ist hoch, holzgetäfelt, hat drei mächtige verzierte Portale, wirkt würdig: auf alten Fotos sieht man, dass er 1945 aus allen Nähten platzte, so drängten sich in ihm die Justizvertreter, Dolmetscher, Protokollanten und ein Heer von Pressevertretern aus aller Welt, darunter Hemingway, Dos Passos, Kästner oder Erika Mann. Was geschah also hier?
Dura und Kroesinger stellen drei Figuren in den Mittelpunkt ihrer theatralen Recherche, die bewusst nüchtern, ein wenig spröde bisweilen, Ereignisse rekapituliert. Es sind die Aussagen von Hermann Göring, der sich arrogant rechtfertigt, von Marie Claude Vaillant-Couturier, die als jüdisches Opfer den Auschwitz-Alltag mit quälender Sachlichkeit schildert, und von Otto Ohlendorf, der als Schreibtischtäter den Mordapparat mit deutscher Gründlichkeit am Laufen hielt. Zwischen den korrekten juristischen Floskeln sind das drei ganz verschiedene Sprachen, in denen von einer Zeit erzählt wird, die für die einen fanatisch ausgeübter Auftrag, für die anderen Schrecken und für den Großteil der Deutschen eine fatale Normalität war, in der das Gehorchen beim Wegsehen half.
Das Unsägliche dokumentiert
„Saal 600: Spurensuche“ will dabei diesen „Erinnerungsort“ nicht überstrapazieren. Das Stück jongliert mit Bedacht und Vorsicht mit der Atmosphäre, nur als Hintergrund laufen schwarz-weiße Filme, in denen die Kläger und Angeklagten, die Zeugen und der Tross der Prozessbeteiligten zu sehen sind, werden Dokumente gezeigt, die dem Gericht als Beweise nutzten.
Und indem die fünf Akteure (Anna Klimovitskaya, Adeline Schebesch, Stephanie Leue, Nicolas Frederick Djuren, Janning Kahnert) die Original-Rollen nicht spielen und Charaktere kopieren, sondern eher wie Beobachter des vergangenen Ereignisses das Verbürgte zitieren als Menschen von heute, vermeiden sie jegliche museale Gefahr.
Die Schauspieler bleiben Dokumentaristen des Unsäglichen, sie stocken, verzetteln sich in dem überbordenden Material, versuchen das Unbegreifbare zu ordnen, hieven Akten auf Akten, türmen verschriftlichte Untaten – und werfen die Blätter in die Luft und lassen sie regnen wie einen ätzenden Guss. Die Tonnen von Papier (allein das Sitzungsprotokoll des Auftaktprozesses umfasste 16.000 Seiten) sind doch nur Makulatur angesichts der Untaten, die auf ihnen verzeichnet waren.
Dieses wichtige Stück will keine Antworten geben, es stellt Fragen in den berühmten Saal, der für die Nazi-Verantwortlichen Untergang, für die überlebenden Opfer aber immer ein Stück Hoffnung bedeutete. Es belebt einen sterilen Erinnerungsort und fordert ihn als Lernort heraus.