Mangolds Taxiruf
Stell Dir vor, Du kommst nach dem Tod in die Hölle und dort läuft das neue Album von Abba
13.11.2021, 07:00 Uhr

Ich habe mich an meinen schönen Erinnerungen an die 70er Jahre vergriffen, als ich mir das neue Album von Abba besorgte. Das war ein Fehler, denn man kann den Traum der Jugend nicht wieder auffrischen. Versucht man es, klingt das Ergebnis wie „Voyage“.
Zu sagen, dieses Album sei das Comeback der vier schwedischen Superstars, die mit ihrem genialen Pop den Sound eines Jahrzehnts prägten, ist genauso falsch, wie zu sagen, diese Band habe fast 40 Jahre lang nur eine Pause gemacht.

Nein, das Quartett war schon 1981 am Ende, als „The Visitors“ erschien, ihr letztes Studioalbum. Es trug die Atmosphäre und den Klang gepackter Koffer, leergeräumter Wohnungen und schal gewordener Erinnerungen in sich. Die lange Party der beiden Erfolgspaare Agnetha Fältskog und Björn Ulvaeus sowie Benny Andersson und Anni-Frid Lyngstad war vorbei.

Nun war die Musik von der bitteren Melancholie zweier zerbrochener Beziehungen durchdrungen, von den verletzten Seelen bürgerlicher Paare, für die eine Trennung trotz aller behaupteten Aufbruchstimmung vielleicht doch ihre Lebenskatastrophe war.
Erschreckend finde ich, dass fast 40 Jahre später in „Voyage“ diese Stimmung in der Musik immer noch omnipräsent ist, auch wenn sie von den beiden Soundtüftlern Ulvaeus und Andersson mit allen Mitteln kaschiert werden will.

Schunkelnde, einlullende Rhythmen sind ihr Mittel der Wahl, ob bei „I still have faith in you“ mit seinem synthetischen und als Erinnerung markiertem Applaus. Oder „Little things“ mit seinem Weihnachtskinderchor, bei dem man denkt: Holla, das klingt ja fast wie Brahms‘ Wiegenlied! Das steigert sich zum boogie-woogigen „Just a notion“, übers herzige „Bumblebee“ mit seinem „Little-Drummer-Boy“-Rhythmus bis zu „Ode to freedom“, das Beethoven zuwinkt, aber nur eine vor sich hindümpelnde Barcarole ist, bei der Jacques Offenbach glatt einschlafen würde.

Dazwischen wabert die von 1981 nachhallende fahle Abschiedsstimmung in „Don‘t shut me down“ und „I can be that woman“ wie schweres Kohlenmonoxid überm Fußboden. Mit anderen Worten: zivilisiert herunterregulierte, als Unterhaltungsmusik umfunktionierte Beziehungsdramen einer Generation, die sich von dem Gedanken verabschiedet hat, diese Welt noch mitzugestalten. Stattdessen sitzt sie abgeschottet hinter den Wänden ihrer Wohlstandsimmobilien, hat Angst vorm Alter und der Zukunft, obwohl die für sie schon fast aufgebraucht ist.

Das bisschen Disco und Upbeat dazwischen in „Keep an eye on Dan“ oder „No doubt about it“ klingt so verzweifelt vital, als zöge sich ein über 70-Jähriger sein spaciges Waterloo-Kostüm von früher über, um auf der Party noch mal was zu reißen.

Abba in den 70ern, das war tolle Popmusik, die von Lebenslust getragen war. Abba 2021, das ist gekonnt abgemischte Popmusik, die nicht wahrhaben will, dass es keinen Weg zurück mehr gibt. Nicht einmal, wenn die vier Superstars nächstes Jahr viele Abende hintereinander in London in Konzerten in Erscheinung treten – aber eben nur als digitale Projektionen jener Menschen, die sie in ihren jungen Jahren waren.
Das ist genial und gruselig zugleich, das sichert diesen Vier eine Unsterblichkeit in einer Gestalt, über die die Zeit längst hinweggerollt ist. Es ist eine Reise ins Nichts – mit Abbas Musik in der Endlosschleife. Es ist, womöglich, die Hölle.
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