Premiere am Sonntag
"The Rape of Lucretia": Was man im Opernhaus über Gewalt lernen kann
14.6.2021, 06:21 UhrKann ein brutales, menschenunwürdiges Verbrechen wie die Schändung einer Frau irgendeinen Sinn haben? Die Frage hat Benjamin Britten in einer Kammeroper „The Rape of Lucretia“ zwar nicht beantwortet, aber er hat der Geschichte aus der mythischen Frühgeschichte Roms über die Vergewaltigung der Lucretia durch den etruskischen Königssohn Tarquinius Züge einer schicksalhaften Leidensgeschichte, einer Passion gegeben.
Jens-Daniel Herzog ist nicht nur Nürnberger Staatsintendant, sondern auch ein international renommierter Regisseur. In seiner Deutung der Kammeroper – das Programmheft erwähnt auch Annika Nitsch als Co-Regisseurin – arbeitet er die Mechanismen heraus, mit denen solche grausame Taten auch heute noch gesellschaftlich instrumentalisiert werden.
Dass Britten unter anderem wegen karger Nachkriegsbedingungen bei dem 1946 uraufgeführten Werk mit kleinen Formen und kleiner Besetzung gearbeitet hat, kam der Entscheidung für diese Oper in Coronazeiten zugute. Am Sonntagabend war Premiere im Opernhaus.
Aus der Reduktion entwickelt Herzog ein szenisches Labor. Er markiert mit weißen Linien ein Quadrat, die Arena des Lebens, in der alle Akteure immer anwesend sein müssen – und sei es nur als Beobachter am Spielfeldrand.
Die Inszenierung überhöht nichts, sie spitzt zu. Wenn sich der Tyrannensohn Tarquinius (Sangmin Lee mit machtlüsternem Bariton) und die beiden römischen Generäle Junius (Wongyon Kang aufwiegelnd gefährlich) und Collatinus (Nicolai Karnolsky bassschwer, aber sanftmütig wehrlos) mit Dosenbier betrinken, dann ist das der Klassiker für ein Hochschaukeln der Aggressionen, wie es in vielen x-beliebigen Männergruppen ständig überall passieren kann – oft mit furchtbarem Ausgang.
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In dieser aufgeheizten Stimmung wird rasch Lucretia zum Hassobjekt. Sie ist die Frau des Collatinus und hat sich als einzige nicht am sexuell ausschweifenden Leben der Römerinnen in der unter etruskischer Herrschaft verwahrlosten Stadt beteiligt.
Gastsängerin Hanna Larissa Naujoks gibt sie als introvertierte und verletzliche Frau, deren Mezzo im Leiden Abgründe ahnen lässt. Junius, gehörnt und blamiert, treibt der Neid derart um, dass er Tarquinius anstiftet, noch in der Nacht Lucretia aufzusuchen, um sie zu verführen – was in der Vergewaltigung münden wird.
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Man erlebt diese tragisch erbarmungslose Handlung nur in kleinen Ausschnitten direkt, meistens bekommt man sie in heute etwas ungelenk wirkender Poesie von einem Erzähler und einer Erzählerin geschildert, die bei Herzog als Motivationsredner einer christlichen Sekte auftreten.
„Follow the Bible“ ist ihr Slogan, und sie deuten das Geschehen in ihrem religiös ideologisierten Sinne. Tadeusz Szlenkier ist für die aggressive Attacke zuständig; Emily Newton manipuliert lieber emotional subtil. So formt die Regie aus der Geschichte eines sinnlosen Verbrechens eine Versuchsanordnung über den kalkulierenden, zynischen Umgang einer Gesellschaft mit solch einer Tat.
Lucretia und ihre beiden Vertrauten Bianca (Marta Swiderska) und Lucia (Julia Grüter) sind in ihrem Haus ohne die Anwesenheit von Collatinus genauso ungeschützt und damit angreifbar wie wir alle, die wir auf den zivilisatorischen Grundkonsens vertrauen, dass niemand einem anderen Menschen Gewalt antut.
Tarquinius bricht diese Regel, er ist der Gewalttäter im archaischen Sinne, er dringt in das Haus ein, er bricht Lucretias Willen und zerstört ihre Unversehrtheit.
Das wäre schon schlimm genug, doch nach der Vergewaltigung erfährt Lucretia weitere Erniedrigung: Collatinus, aus Scham darüber, dass er ihr nicht helfen konnte, spielt die Bedeutung der Tat herunter. Bianca und Lucia flüchten sich in Gute-Laune-Gesänge.
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Und auch Lucretias Selbstmord aus Schmerz und Erniedrigung würde nur benutzt werden: von Junius, der die Römer mit dieser Tat zum Aufstand gegen die etruskischen Fremdherrscher anstachelt. Und von den Motivationspredigern, die zum tragischen Geschehen eine pseudochristliche Überhöhung beisteuern.
Herzog deutet deshalb eine andere Lösung an. Eine, die Lucretia zumindest symbolisch jene Freiheit schenkt, die sie in ihrem Leben nie hatte.
Der eigentliche und mit Abstand beste Erzähler ist in „The Rape of Lucretia“ das Orchester. Britten hat in seine zweite Oper - nach „Peter Grimes“ - eine Vielfalt an musikalischen Formen gepackt, die er in der Tradition des wichtigsten Vertreters der englischen Klassik, Henry Purcell (1659 – 1695), verortet. Insbesondere die Schluss-Passacaglia ist als Hommage an diesen „Orpheus Britannicus“ angelegt.
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Britten verwebt die alten mit modernen Musikformen und schafft damit eine plastische Tonsprache, die von lediglich 13 Instrumentalisten erzeugt wird. Björn Huestege, Stellvertreter von GMD Joana Mallwitz, formt mit der kleinen Abordnung der Staatsphilharmonie Nürnberg daraus einen plastischen, emotional dichten, farbenreichen Klang.
Etwa in den aggressiven Attacken der Perkussion beim Gelage der Männer; oder in der Verletzlichkeit des Spinnlieds der drei Frauen, in das sich der treibende, angriffslustige Rhythmus des heranreitenden Tarquinius mischt. Oder in der Klage des einsamen Englischhorns nach der Vergewaltigung.
Diese fesselnde Musik bleibt stets so durchsichtig, dass man wie in Herzogs Inszenierung die Mechanik einer Versuchsanordnung erkennen kann.
So bietet „The Rape of Lucretia“ in Nürnberg zwei konzentrierte Stunden Oper, die gesellschaftliche Instrumentalisierung von Gewalt reflektieren. Und die anregen zum Nachlauschen, was für ein wunderbarer Organismus ein Orchester sein kann, selbst wenn es nur in kleiner Besetzung musiziert. Das lohnt einen Besuch im Opernhaus.
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